Echte Teilhabe heißt, Jugendliche die Gesellschaft mitgestalten zu lassen, auch wenn ihre Forderungen „unbequem“ sein können. Der Politologe Steve Kenner forscht zu Lernprozessen in politischen Jugendbewegungen und demokratischer Schulentwicklung. Aus wissenschaftlicher Perspektive beleuchtet er im Interview mit OPENION das Zusammenspiel von politischer Teilhabe und Demokratiebildung.
Dieses Interview wurde uns von der DKJS aus dem Projekt OPENION zur Nachveröffentlichung zur Verfügung für unseren Newsletter gestellt. Ein Projektmitarbeiter führt ein Interview mit Steve Kenner. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie (IDD) an der Leibniz Universität Hannover und stellvertretender Vorsitzender seit 2016 Mitglied in der Deutsche Vereinigung für Politische Bildung (DVPB)und stellv. Vorsitzender des Landesverbandes Berlin.
Wie Partizipationsprozesse durch zeitgemäße Demokratiebildung gefördert werden.
OPENION:
Welche Rolle spielt Partizipation derzeit in der Demokratiebildung?
Steve Kenner:
Um diese Frage beantworten zu können, braucht es zunächst Klarheit darüber, was wir unter Partizipation verstehen. Mein Eindruck ist, dass Partizipation im Sinne eines sozialen Engagements sowohl in der Schule als auch im außerschulischen Kontext sehr beliebt ist. Programme zur Förderung des sozialen Engagements haben Konjunktur. Institutionalisiert wurden diese Programme in Sozialpraktika an den Schulen und Freiwilligendiensten wie dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) oder dem Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ). Kinder und Jugendliche, die sich im Altersheim für die Bewohnerinnen und Bewohner engagieren und mit ihnen Spieleabende veranstalten, Schülerinnen und Schüler, die Putzaktionen auf dem Schulhof organisieren, junge Menschen, die Patenschaften für Geflüchtete übernehmen – sie alle erfahren in der Regel viel Anerkennung für ihre Aktivitäten.
Ohne dieses Engagement schmälern zu wollen, bleibt doch zu konstatieren, dass für die Demokratiebildung von großer Bedeutung wäre, auch das Politische in dem sozialen Engagement herauszuarbeiten. Dazu gehört, dass wir in der Schule und in non-formalen Bildungssettings Macht- und Herrschaftsverhältnisse thematisieren und Fragen von Inklusion und Exklusion nicht nur aus der Subjektperspektive betrachten, also nicht nur fragen, was jeder Einzelne tun kann, sondern inwiefern politische und gesellschaftliche Strukturen verändert werden müssen, um das Zusammenleben weiterzuentwickeln. Für die Demokratiebildung darf nicht gelten, dass sie jungen Menschen beibringt, Aufgaben des Sozialstaates zu übernehmen. Sie muss vor allem junge Menschen bei dem komplexen Prozess der kritischen Selbst- und Weltaneignung unterstützen. Kurz gesagt: Junge Menschen können sich jederzeit sozial engagieren, sie müssen aber auch in der Lage sein, die Ursachen für soziale Ungleichheitsverhältnisse zu identifizieren und dazu befähigt werden, sich für gesellschaftspolitische Veränderungen einzusetzen.
Wenn Kinder und Jugendliche politisch werden, sich für ihre eigenen Interessen oder die Interessen anderer politisch einsetzen, geraten sie schnell an Grenzen. Um bei den oben genannten Beispielen zu bleiben, so gelten jene junge Menschen, die nach ihrem sozialen Einsatz im Altersheim eine Petition für mehr und besser bezahlte Pflegekräfte auf den Weg bringen, als unbequem. Auch die Schülerinnen und Schüler, die nicht nur den Müll auf dem Schulgelände aufsammeln wollen, um die Umwelt zu schützen, sondern auch freitags für Klima- und Umweltschutz auf die Straße gehen, sind unbequem. Und jene junge Menschen, die sich mit ihrem Mitschüler, für den sie die Patenschaft übernommen haben, solidarisieren und versuchen, seine bevorstehende Abschiebung zu verhindern, sind ebenfalls unbequem. Kinder und Jugendliche, deren Partizipation nicht bei sozialem Engagement endet, werden oftmals damit konfrontiert, dass ihnen Erwachsene, Pädagoginnen und Pädagogen und Lehrkräfte ihre Teilhaberechte verwehren. Schulstreiks gelten als illegitim und werden mit Disziplinarmaßnahmen sanktioniert, Vollversammlungen von Schülerinnen und Schülern untersagt und Demonstrationen von Jugendlichen mit dem Verweis auf vermeintlich kindliche Naivität diffamiert.
Aber viele Jugendliche wehren sich immer häufiger dagegen. Schon aus Jugendstudien der letzten Jahre, wie der Shell-Jugendstudie, war abzuleiten, dass das politische Interesse der jungen Generation steigt. Nur das Interesse an etablierten politischen Institutionen und Teilhabeformaten ist gesunken. Immer mehr junge Menschen suchen sich neue Formen der Artikulation. Über das Internet organisieren und mobilisieren sie sich. Sie setzen sich gegen die Einschränkung des freien Internets, für mehr Klimaschutz und gegen eine restriktive Asylpolitik ein. Es wird Zeit, dass Demokratiebildung dieses Bedürfnis der jungen Generation aufgreift und ihren Wunsch nach Teilhabe ernst nimmt. Das gilt auch für die politische Bildung in der Schule und darüber hinaus.
OPENION:
Wann würden Sie von erfolgreichen Partizipationsprozessen sprechen? Was ist Ihrer Ansicht nach in diesem Prozess die Aufgabe von Pädagog*innen?
Steve Kenner:
Als Pädagoge würde ich sagen, dass Partizipationsprozesse immer erfolgreich sind. Dabei stellt sich die Frage, was unter Erfolg zu verstehen ist. Was ist das Ziel von Partizipationsförderung? Sollen Kinder und Jugendliche immer das Gefühl haben, dass ihr Engagement erfolgreich war? Das kann und wird nicht gelingen. Auch das Scheitern gehört zum Handeln und auch zur Demokratie. Das Werben und der Einsatz für die eigene Position oder das eigene Ziel ist nicht zwangsläufig damit verbunden, dass die eigenen Vorstellungen eins zu eins umgesetzt werden. Auch ein vermeintliches Scheitern von Partizipation kann ein erfolgreicher Lernanlass sein. Genau hier setzt die Arbeit von politischen Bildnerinnen und Bildnern an. Sie können dabei helfen, Perspektiven aufzugreifen, die in der politischen Aktion der jungen Menschen weniger Berücksichtigung fanden, und Zugänge zu komplexen Politikfeldern wie politischen Entscheidungsverfahren ermöglichen. Wenn das gelingen soll, ohne dabei den Charakter des Belehrens zu bekommen, dann müssen Pädagoginnen und Pädagogen auch ihre eigene Rolle reflektieren. Wer junge Menschen dabei unterstützen will, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen, der muss sich seiner eigenen Rolle in diesem Lernkontext bewusstwerden. Politische Partizipation als Lernanlass zu begleiten, bedeutet auch, sich als Pädagogin oder Pädagoge zurückzunehmen. In der Schule und auch in der außerschulischen politischen Bildung sollten Freiräume für Partizipationserfahrung geschaffen werden. Tatsächliche Freiräume bedeuten auch, dass Pädagoginnen und Pädagogen lernen, sich zurückzuziehen und doch immer ansprechbar bleiben. Ich bin überzeugt, dass viele erstaunt wären, wie häufig sie um Rat und Unterstützung gebeten werden, wenn sie solche Räume schaffen. Diese Freiräume erfordern aber nicht nur den Mut sich zurückzunehmen, sondern die Folge der Politisierung des Raumes auszuhalten.
Aus meiner Forschung kenne ich tolle Projekte, in denen Schulen es geschafft haben, diesen Freiraum zu gewähren. Schülerinnen und Schüler gründeten eigene Arbeitsgemeinschaften, setzten sich für Geflüchtete ein, organisierten Spendensammelaktionen und Sprachkurse. Aber als sie ein Rockkonzert gegen rechte Gewalt auf die Beine stellen wollten, wurde ihnen von der Schulleitung zur Auflage gemacht, dass sich das Konzert gleichermaßen gegen rechte und linke Gewalt richten sollte. Die Schülerinnen und Schüler der AG wollten diese Auflage nicht akzeptieren, weil sie gegenwärtig in der Gewalt rassistischer und menschenverachtender Gruppen eine weitaus größere Gefahr sehen. Eine solche Einflussnahme auf das politische Engagement von Schülerinnen und Schülern ist in jedem Fall kontraproduktiv. Aber es gibt auch Grenzen. Niemand darf zur politischen Partizipation genötigt werden. Die Teilnahme an politischen Aktionen, unabhängig davon, ob es sich um konventionelle oder unkonventionelle Formen handelt, muss immer freiwillig sein. Und noch eine weitere Grenze muss für politische Partizipation gelten: die Wahrung von Grund- und Menschenrechten darf nicht zur Disposition stehen. Hier muss die Schule als Institution und die Lehrkräfte und Pädagoginnen und Pädagogen konsequent Grenzen aufzeigen.
OPENION:
Können Partizipationsprozesse demokratische Handlungskompetenz(en) befördern? Wenn ja, inwiefern?
Steve Kenner:
In jedem Fall. Soziales Engagement kann dabei helfen, die Perspektiven jener besser zu verstehen, die von Praxen der Exklusion betroffen sind. Ein zweiwöchiges Praktikum in einer Werkstatt für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen hilft ohne Zweifel, um zu verstehen, mit welchen alltäglichen Herausforderungen Menschen in dieser Gesellschaft konfrontiert sind, welche Barrieren sie überwinden müssen. Das schärft die Sinne. Zu demokratischen Handlungskompetenzen gehört ohne Zweifel auch die Anerkennung der Würde des Anderen und der Einsatz für andere. Soziale Teilhabe fördert demnach Handlungskompetenz im Sinne einer Orientierung in der Wirklichkeit.
Politische Partizipation fördert darüber hinaus auch noch eine kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen. In meinem aktuellen Forschungsprojekt habe ich Interviews mit Kindern und Jugendlichen in ganz Deutschland geführt, die sich in verschiedenen Gruppen selbstbestimmt und selbstorganisiert politisch engagieren. Sie gehören keiner Partei an und sind nicht in institutionalisierten Strukturen eingebunden. Sie schaffen sich selbst Freiräume für die politische Teilhabe. Die Studie ist noch nicht abgeschlossen, aber schon jetzt lässt sich sagen: Alle Kinder haben wertvolle Lernerfolge in den zentralen Feldern der Demokratiebildung sammeln können – Analysefähigkeit und Orientierung, Urteilsbildung und Kritik sowie Handlungskompetenz. Hervorzuheben ist, dass die befragten Jugendlichen den eigenen politischen Lernprozess in der politischen Aktion sehr reflektiert beschreiben. Dabei ist festzustellen, dass der politische Lernprozess nicht nur Einfluss auf die Demokratiekompetenzen der jungen Menschen hat, sondern auch ihre Persönlichkeit stärkt. Die Partizipationserfahrung hat auch ihr Selbstbild als Bürgerinnen und Bürger, als mündiger und wertvoller Teil der Gesellschaft und der Demokratie gestärkt. Dieses Potential des politischen Handelns als Lernanlass kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. In der Pädagogik würde man hier wohl von intrinsischer Motivation sprechen.
OPENION:
Welche Herausforderungen sehen Sie aktuell für die Demokratiebildung und kann Partizipation helfen, mit diesen Herausforderungen umzugehen?
Steve Kenner:
Die Demokratiebildung steht vor einer Vielzahl an Herausforderungen. Unsere Gesellschaft steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Die Herausforderungen unserer Zeit sind dabei unter anderem die Transformation zur Migrationsgesellschaft, der Klimawandel und die Digitalisierung. Teile der jungen Generation realisiert gerade bei diesen Themenfeldern, dass die Generation ihrer Eltern hier viel verschlafen hat. Sie wollen das Heft des Handelns in die Hand nehmen oder zumindest eingebunden werden. Demokratiebildung in der Schule und darüber hinaus muss darauf reagieren. Schulen dürfen nicht länger unpolitische Räume bleiben. Die Diskussion um die AfD-Meldeportale haben gezeigt, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten ein verschobenes Bild etabliert hat. Die Schule sei ein vermeintlich neutraler Raum, in dem Kinder und Jugendliche möglichst schnell, möglichst konformistisch viel lernen und ideal auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden.
Aber das ist nicht – oder zumindest nicht nur – die Aufgabe der Schule. Die Schulgesetze der Bundesländer sind da zumeist schon in den ersten Artikeln sehr eindeutig. Sie betonen den Auftrag von Schule als Lernort der Demokratie. Auch die Kultusministerkonferenz hat in ihrem Beschluss von 2018 diese Rolle noch einmal hervorgehoben. Aber als Lernort der Demokratie muss die Schule auch Freiräume für reales politisches Handeln schaffen. Kinder und Jugendliche dürfen nicht nur darauf vorbereitet werden, ein bestehendes System zu verstehen und darin zu funktionieren. Sie müssen begleitet werden in einem Prozess der kritischen und reflektierten Mündigkeitsbildung. Das funktioniert nicht mit starren didaktischen Konzepten, das funktioniert nicht mit Alibi-Partizipation in einer Schülerinnen-Vertretung, die an den entscheidenden Stellen kein Mitspracherecht hat, und es funktioniert auch nicht, wenn die Schule den politischen Konflikt scheut. Selbstverständlich werden sich nicht nur Kinder und Jugendliche mit einem links-liberalen Weltbild einbringen. Aber so lange das politische Engagement nicht dazu führt, dass andere Menschen abgewertet werden, kann und muss man unterschiedliche Positionen aushalten.
Der in den letzten Monaten wieder häufig zitierte „Beutelsbacher Konsens“, drei Grundprinzipien der politischen Bildung, die in weiten Teilen anerkannt werden, betont neben dem Überwältigungsverbot auch das Kontroversitätsgebot. Wenn wir Kinder und Jugendliche tatsächlich nicht überwältigen wollen, müssen wir vor allem auch das dritte Prinzip berücksichtigen: Kinder und Jugendliche müssen befähigt werden, ihre eigenen Interessen zu identifizieren und sich dafür einzusetzen, ohne dabei die Interessen der Mitmenschen zu ignorieren. Es ist dieses Prinzip des „Beutelsbacher Konsens“, welches oftmals unerwähnt bleibt. Daher finde ich, dass die Frankfurter Erklärung zur Politischen Bildung eine wichtige Ergänzung ist. Sie konkretisiert dieses dritte Grundprinzip. Die Autorinnen und Autoren dieser Erklärung und das Forum für kritische politische Bildung betonen, dass Kinder und Jugendliche dazu befähigt werden müssen, Macht- und Ohnmachtserfahrungen zu reflektieren. Dafür muss man ihnen zugestehen, diese Erfahrungen auch zu machen. Partizipation und insbesondere das politische Handeln ermöglichen es Kindern und Jugendlichen, Wege zur Selbst- und Mitbestimmung aufzuzeigen. Demokratiebildung kann und muss diese Lernanlässe aufgreifen, begleiten und junge Menschen dabei unterstützen, im eigenen Handeln etwas Neues entstehen zu lassen.
Vor allem der erstarkende Rechtspopulismus, aber auch rechtsradikale und neofaschistische Ideologien breiten sich wieder aus. Dem müssen wir mutig etwas entgegensetzen. Aus der Perspektive der Politischen Bildung halte ich es für besonders wichtig, jene jungen Menschen zu bestärken, die sich diesen Entwicklungen entgegenstellen und dabei Grund- und Menschenrechte verteidigen wollen. Die Bereitschaft junger Menschen sich zu beteiligen und auch politisch Einfluss zu nehmen, ist unbequem und zugleich die größte Chance für eine Gesellschaft, die vor großen gesellschaftspolitischen Herausforderungen steht.
vom 29.08.2019
Zur Person Steve Kenner
- unterrichtete als Lehrer die Fächer Politik und Spanisch
- ist seit 2016 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie (Universität Hannover) tätig
- hat 2018 die Geschäftsführung des Forschungszentrums CINC – Center for Inclusive Citizenship (Universität Hannover) übernommen
- arbeitet als Redaktionsmitglied bei der Zeitschrift POLIS und
- ist Vorstandsmitglied des Landesverbandes Berlin der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB)
- und ist Landesvorsitzenden der DVPB Niedersachsen
- beteiligt sich aktiv im Forum kritische politische Bildung (FkpB)