Gespräche zu Demokratie, Bildung und Teilhabe in der Migrationsgesellschaft mit

Jonathan Czollek, Samja Zierott & Elean Wahode

Diversitätspsychologische Demokratiebildung und kritische Achtsamkeit

Jonathan Czollek Studium der Psychologie (M.Sc.) an den Universitäten Münster, Granada und Oslo mit Schwerpunkten in pädagogischer und klinischer Psychologie sowie in der Verbindung von Psychologie und Diskriminierungsforschung. Systemische Psychotherapieausbildung am IF Weinheim. Aktuell Promotion an der Universität zu Lübeck. Seit 2019 Ausbildner:in am Institut Social Justice & Radical Diversity. Seit 2021 Gründungsmitglied des Instituts für Diversitätspsychologie und Mitglied der Kommission Diversität, Inklusion und Chancengerechtigkeit der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Seit 2024 Mitglied des psychologischen Teams von OFEK. Schwerpunkte in Therapie, Forschung und Bildungsarbeit: Diversitätspsychologie, Diskriminierungskritik in der Psychotherapie, Intersektionalität, Systemische Therapie und Beratung.  

Samja Zierott Studium der Psychologie (M.Sc.) in Münster und Santiago de Chile mit Schwerpunkt in klinischer Psychologie. Seit 2021 Gründungsmitglied des Instituts für Diversitätspsychologie. Trainer:in für Social Justice und Radical Diversity, seit 2024 in der Approbationsausbildung Systemische Psychotherapie. Schwerpunkte in Forschung und Bildungsarbeit: Diversitätspsychologie, Systemische Intersektionalität, Diskriminierungskritik in der Psychotherapie, psychische Gesundheit als Menschenrecht, Kritische Achtsamkeit.   

Elean Wahode Studium der Psychologie (M.Sc.) in Münster, Heidelberg und Santiago de Chile mit den Schwerpunkten klinische Psychologie und diskriminierungskritische Psychotherapie. Trainer:in für Social Justice und Radical Diversity. Seit 2021 Gründungsmitglied des Instituts für Diversitätspsychologie. Seit 2024 in Ausbildung zur psychologischen Psychotherapeut*in im Vertiefungsgebiet Systemik. Arbeit an den Zusammenflüssen von poetischer Bildung, Radical Care, Psychotherapie & Diskriminierungskritik mit den Schwerpunkten Queerfeminismus, Be.Hinderung und systemische Intersektionalität.  

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Bitte stellen Sie uns doch gern zuerst Ihre Arbeit im Hinblick auf das Thema "Bildung und Migrationsgesellschaft" dar.

Wir bilden gemeinsam mit Dario Kroll und Demokrat Ramadani das Institut für Diversitätspsychologie. In diesem Rahmen arbeiten wir sowohl mit Fachkräften aus sogenannten sozialen Berufen als auch mit Aktivist:innen zusammen. In unserer Arbeit bringen wir Wissen aus Psychologie und Diskriminierungsforschung zusammen.  Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang immer wieder stellt, ist: Was könnte man aus Diskriminierungskritik und Psychologie für eine Arbeit in und an einer Gesellschaft der radikalen Vielfalt lernen?  

Dazu bieten wir Seminare, Fortbildungen, Beratungen und andere Formate an und versuchen die Verbindung von Diskriminierungskritik und Psychologie in der Öffentlichkeit bekannter zu machen. Denn es ist ja so: Psychologie ist nicht an sich diskriminierungskritisch. Viele Konzepte brauchen eine Überarbeitung oder es müssen sogar ganz neue Konzepte entwickelt werden. Das ist sozusagen der zweite Teil unserer Arbeit, in dem auch das Konzept Kritische Achtsamkeit entstanden ist. Wir versuchen Arbeitsweisen und Konzepte zu entwickeln, die Psychologie und Diskriminierungskritik zusammenbringen, weil wir glauben, dass psychologische Methoden und Erkenntnisse hilfreich sein können, wenn sie machtkritisch reflektiert werden. 

Wir arbeiten auf eine Gesellschaft der radikalen Vielfalt hin, in der alle Menschen frei von Struktureller Diskriminierung verschieden sein können. Ein Teil radikaler Vielfalt ist auch die Vielfalt an Migrationsbiografien in unserer Gesellschaft.   

Diskriminierungskritik in diesem Kontext bedeutet, darin nicht nur die Vielfalt von Migrationsgeschichten und ihre Relevanz in der Gesellschaft zu betrachten, sondern auch, wie darüber gesprochen wird. Über Migration wird häufig gesprochen, wenn es um Diversität, aber auch Diskriminierung und Privilegien in unserer Gesellschaft geht. Wenn Menschen eine bestimmte geografische Herkunft zugeschrieben wird, wird das häufig, zusammen mit anderen Diversitätskategorien wie Name, Sprache und Aussehen, als Rechtfertigung für rassistische Diskriminierung genutzt. Diversitätspsychologische Bildung in einer sogenannten Migrationsgesellschaft bedeutet, diese Kategorisierungen in Frage zu stellen und aktiv Handlungsoptionen gegen migratistische und rassistische Diskriminierung zu suchen. 

Sie befassen sich mit der Diversitätspsychologie und dem Konzept der Kritischen Achtsamkeit. Könnten Sie genauer erklären, was diese Begriffe bedeuten und wie sie miteinander verbunden sind?

Diversitätspsychologie entsteht für uns dort, wo Diskriminierungskritik und Psychologie zusammenwirken.  Kritische Achtsamkeit ist ein Beispiel für ein diversitätspsychologisches Konzept, das psychologisches Wissen und Kritik Struktureller Diskriminierung zusammenbringt. Wir haben das Konzept entwickelt, weil in unserer Arbeit mit Aktivist:innen und in der politischen Bildung immer wieder auffällt: Es gibt so viel Wissen dazu, wie Diskriminierung funktioniert, und viele Ideen, wie wir die Welt verändern wollen. Und gleichzeitig kann sich ein machtkritischer Blick auf die Welt angesichts der gewaltvollen Normalitäten auch erschlagend und hoffnungslos anfühlen. Manchmal fehlt es auch an Möglichkeiten, in Bildungskontexten dieses Wissen erlebbar zu machen oder aus einem Seminar mit in den Alltag zu nehmen. Deshalb hat Kritische Achtsamkeit für uns gleich zwei wichtige Anwendungsbereiche: Einmal als Didaktik, um in politischer Bildung abstrakte Begriffe wie Radikale Vielfalt oder Diskriminierung greifbarer, erlebbar und verständlicher zu machen. Dazu können Übungen gehören, die aufzeigen und uns hinterfragen lassen, wie wir Menschen anhand von Zuschreibungen zu kategorisieren oder dass wir häufig davon ausgehen, dass unsere Perspektive auf ein gesellschaftliches Problem zwangsläufig die beste ist.  

Als zweites funktioniert Kritische Achtsamkeit als konkrete Handlungsoption gegen Strukturelle Diskriminierung, die Menschen zur Verfügung steht, um im Alltag gegen Strukturelle Diskriminierung vorzugehen. Das bedeutet zum Beispiel eine Wachsamkeit gegenüber Diskriminierung in alltäglichen Strukturen zu entwickeln, die Teil einer Normalität zu sein scheinen. Für die vielen Menschen, die täglich von Struktureller Diskriminierung getroffen sind und/oder dagegen angehen, bietet Kritische Achtsamkeit außerdem Konzepte, um diesen wichtigen und anstrengenden Widerstand langfristig und nachhaltig Teil des Lebens sein zu lassen, ohne daran auszubrennen oder zu verzweifeln. Dies kann beispielsweise bedeuten, sich bewusst zu machen, dass der eigene Aktivismus eingebunden ist in seit Jahrhunderten und teilweise Jahrtausenden bestehende Kämpfe für Gerechtigkeit und wir nicht allein mit unseren Bestrebungen sind.  

Man könnte also sagen, Kritische Achtsamkeit ermöglicht es, Strukturelle Diskriminierungskritik zu einer gelebten Haltung der Radikalen Vielfalt zu machen, in der Bildung und darüber hinaus – einer Haltung, die wir uns selbst und anderen gegenüber einnehmen, und die wir üben und lernen können.  

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Inwiefern unterscheidet sich die kritische Achtsamkeit von klassischen Achtsamkeitskonzepten, und welche Rolle spielt sie im Kontext der Demokratiepädagogik?

Wir würden an dieser Stelle fragen, welche Achtsamkeitskonzepte man jetzt klassisch nennen würde. Aber nehmen wir mal das typische Verständnis westlicher Psychologie von Achtsamkeit. Hier würde man sagen, Achtsamkeit bedeutet die nicht-wertende Wahrnehmung des Hier und Jetzt. Und wenn man Achtsamkeit als Technik lernen möchte, dann trägt dieses Verständnis sehr weit. Menschen können mit dem Einüben von Achtsamkeit ihr Wohlbefinden steigern, vielleicht ihre Schlafqualität oder Konzentration verbessern.  

Wir (und natürlich nicht nur wir) würden sagen, wenn man Achtsamkeit als Haltung verstehen möchte, dann fehlte in diesem „klassischen“ Verständnis ein wichtiger Aspekt. Ungerechtigkeit und Diskriminierung nicht-wertend wahrzunehmen und nichts zu verändern, würde unserem – also einem diskriminierungskritischen – Verständnis von Achtsamkeit widersprechen. Dieser Punkt der Haltung widerspricht nicht notwendigerweise dem oben beschriebenen Verständnis, aber er wird dort auch nicht hervorgehoben, geschweige denn ausbuchstabiert. Wir machen nun also ein Vorschlag und sagen: Es ist möglich, gleichzeitig diskriminierungskritisch und achtsam zu sein. 

Das eigene Handeln kritisch achtsam zu gestalten hat aus unserer Sicht drei Dimensionen: Widerständigkeit, Eingebundenheit und Pluralisierung. Nehmen wir die erste Dimension als Beispiel: kritisch achtsam zu sein heißt Widerständigkeit Teil des eigenen Lebens sein zu lassen, im Handeln und in der Wahrnehmung. Das bezieht sich zum Beispiel auf Situationen, in denen ich Ungerechtigkeit anspreche und bewusst in Situationen bleibe, die dadurch unangenehm werden, denn oft liegt genau in diesen Momenten die Veränderung. Das passiert mir nicht einfach so, sondern braucht Überwindung und vielleicht auch stoische Achtsamkeit und Willen, um nicht den leichtesten Weg zu wählen. Gleichzeitig beinhaltet Widerständigkeit als Haltung kritische Achtsamkeit auch die Erkenntnis, dass in einer Welt, in der ich mich die ganze Zeit anstrengen muss (aus Leistungsdruck, ungerechten Verhältnissen oder aus dem Wunsch, etwas zum Besseren zu verändern) auch Pausen radikal und widerständig sein können. 

Strukturelle Diskriminierung produziert aufgrund von Zuschreibungen und Kategorisierungen Ungerechtigkeiten und Gewalt und steht einem demokratischen Miteinander fundamental im Weg. Deshalb ist für uns Antidiskriminierungsarbeit ein Hauptanliegen der Demokratiepädagogik. In der pädagogischen Psychologie gibt es viele Erkenntnisse dazu, wie Lernen wirksam gestaltet werden kann, sodass nicht nur Wissen vermittelt wird, sondern jede Person im Raum Veränderungen in ihren Alltag tragen kann. Dazu gehört, dass der Lernstoff etwas mit mir persönlich zu tun haben sollte.  

Und hier kommt kritische Achtsamkeit ins Spiel: Praktische Übungen kritischer Achtsamkeit erlauben es uns, nicht nur über Diskriminierung und Demokratie zu reden, sondern die Veränderung erfahrbar zu machen, die wir uns wünschen. Vorhin haben wir die Tendenz erwähnt, die eigene Perspektive auf Themen rund um Strukturelle Diskriminierung und Diversität für die einzig richtige zu halten – wir sind meist automatisch „die Guten“. Kritisch achtsam wäre es, sich diese Tendenz bewusst zu machen und sich zu vergegenwärtigen, dass ich auch falsch liegen könnte mit dieser Annahme. Moralische Unabgeschlossenheit könnte man das nennen, das ist ein Teil des Konzepts von Kritischer Achtsamkeit.  Im Sinne der Pluralisierung kann eine Frage in einer Lerngruppe lauten: „Wenn wir die guten sind, wer sind dann die anderen?“  

Wie kann das Konzept der Kritischen Achtsamkeit gezielt als Handlungsansatz gegen strukturelle Diskriminierung in politischen Bildungsprozessen eingesetzt werden?

Kritische Achtsamkeit als Methode eröffnet einen Raum, sich im pädagogischen Rahmen den Gefühlen zu widmen, die in der Auseinandersetzung mit Demokratie und Struktureller Diskriminierung aufkommen. Wenn wir über diese Themen sprechen, geht es nämlich schnell um Themen, die Menschen ganz konkret in ihrem eigenen Leben beschäftigen und ihren Alltag prägen und die schwierigen Debatten und Gefühle auslösen. Oder um die Konfrontation mit Privilegien und das Auseinanderklamüsern sicher geglaubter Wahrheiten. Was also tun mit aufkommenden antidemokratischen Gedanken, mit Gefühlen von Abwehr, Schuld, Ohnmacht oder Überforderung? In der Vermittlung demokratischer Werte ist es wichtig, diese Gefühle weder zu ignorieren und zu tabuisieren (denn sie sind ja da und gehören zu demokratischem Lernen dazu), noch sie zum Selbstzweck werden zu lassen und den gesamten Prozess an ihnen auszurichten (denn wir sind ihnen nicht ausgeliefert, sondern können entscheiden, wie wir mit ihnen umgehen wollen). 

Übungen kritischer Achtsamkeit helfen dabei, dies umzusetzen, und mit emotionalen Prozessen selbstbestimmt demokratisch umgehen zu lernen. Zentrale Merkmale der Übungen sind dabei – anknüpfend an die Pfeiler radikaler Demokratietheorien – Freiwilligkeit, Unabgeschlossenheit und Partizipation. Sie teilen einen Fokus auf das eigene Erleben und Lernen und tragen dazu bei, einen bewussten Umgang mit Gefühlen und sozialen Dynamiken zu stärken und demokratische Haltungen nach und nach ins Fundament des eigenen Fühlens und Handelns einzubauen – wichtige Kompetenzen, um sich aktiv Struktureller Diskriminierung entgegenzustellen. 

Pierre Asisi