Gespräche zu Demokratie, Bildung und Teilhabe in der Migrationsgesellschaft mit
Pierre Asisi
Migrationsgesellschaft, Neukölln und „kiez:story“
Bitte stellen Sie uns doch gern zuerst Ihre Arbeit im Hinblick auf das Thema "Bildung und Migrationsgesellschaft" dar.
Ich arbeite seit 2017 für den Träger der freien Jugendhilfe ufuq.de, dessen Claim „Pädagogik, politische Bildung und Prävention in der Migrationsgesellschaft“ lautet. Im Rahmen unserer Arbeit führen wir beispielsweise Fortbildungen mit Lehrkräften oder Workshops mit Jugendlichen durch. Zuletzt habe ich im Projekt „kiez:story“ gearbeitet, in welchem wir auch längerfristig mit Jugendlichen zusammengearbeitet haben. Die sehr unterschiedlichen Projekte, die unseren Verein ausmachen, werden dabei durch einen Kerngedanken zusammengehalten, der auch in unserem Leitbild verankert ist: „Wir möchten zu einem solidarischen, inklusiven und demokratischen Miteinander beitragen und Menschen für verschiedene Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung sensibilisieren, sie gegenüber Ideologien der Ungleichwertigkeit stärken und ihre gesellschaftliche Partizipation fördern. Dazu möchten wir Erfahrungen von Zugehörigkeit, Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Gleichwürdigkeit ermöglichen.“ Auch wenn ich das Gefühl habe, dass oftmals die implizite Erwartung mitschwingt, dass wir Präventionsangebote für migrantisierte Jugendliche schaffen sollten, habe ich den Anspruch, dass wir uns für eine politische Bildung stark machen, die offen für alle Jugendlichen ist – sie haben ein Recht darauf.
Welches Bild wird in Neukölln häufig gezeichnet, wenn es um Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund geht, insbesondere im Kontext von antimuslimischem Rassismus?
Neukölln kann vielleicht als „Migrant unter den Bezirken“ bezeichnet werden. Dabei dient der Bezirk häufig als Projektionsfläche für gesellschaftliche Fehlentwicklung, die weniger sozial verstanden, sondern kulturalistisch erklärt werden. In diesem Sinne spielt dann beispielsweise die Armut im Bezirk eine geringere Rolle in der Erklärung für manche Missstände, stattdessen wird die (vermeintliche) Religionszugehörigkeit eines Teils der Bevölkerung als Problem benannt. Wenn es beispielsweise um Jugenddelinquenz geht, wird häufig der Eindruck vermittelt, dass sich dieses Problem wortwörtlich „abschieben“ ließe und ganz nebenbei dieses negative Bild generalisiert. Dabei sprechen wir von Jugendlichen, die in den meisten Fällen hier geboren und aufgewachsen sind, deren Zugehörigkeit aber grundsätzlich in Frage gestellt wird – eben auch, wenn es ihr größter Wunsch ist, keinem negativen Stereotyp zu entsprechen. In der Auseinandersetzung mit dem Bezirk Neukölln spielt also antimuslimischer Rassismus eine zentrale Rolle und dieser Fremdblick wirkt sehr einschränkend auf die Entfaltungsmöglichkeiten Neuköllner Jugendlicher. Die Konflikte in und rund um diesen Bezirk lassen sich nicht verstehen, wenn wir nicht versuchen, rassismuskritisch darauf zu blicken.
Welche Rolle spielt die Medienberichterstattung in der Integrationsdebatte?
Die Medienberichterstattung spielt über Neukölln hinaus eine zentrale Rolle bei der Verfestigung rassistischer Stereotype. Dies kann nicht nur subjektiv erfühlt werden, sondern lässt sich auch durch Studien belegen. Beispiele sind die negative Darstellung des Islams oder auch die (rassistische) Verzerrung in der Berichterstattung mit Hinblick auf Straftaten, bei denen migrantische (bzw. migrantisierte) Personen tatverdächtig werden (Mediendienst Integration 2019). Dies alles lässt sich sehr gut anhand der Berichterstattung über Neukölln veranschaulichen. Oftmals scheint es so, dass Meldungen, ohne wirklichen Nachrichtenwert – beispielsweise eine Schlägerei ohne Verletzte oder eine Razzia auf der Sonnenallee in der ein paar Kilo unverzollter Tabak beschlagnahmt werden – als Schlagzeile in den Lokalnachrichten herhalten und so täglich für ein alarmistisches Grundrauschen sorgen. Oftmals bleibt es dabei aber auch nicht auf der lokalen Ebene: Die Berichte über Jugendgewalt im Sommerbad Neukölln füllte bspw. das bundesweite Sommerloch 2023. Würden wir unser Bild über Neukölln also nur aus den Medien speisen, droht der Eindruck, dass der Bezirk am Rande eines Bürgerkriegs steht. Als Neuköllner kriege ich meine Alltagsbeobachtungen und die Medienberichterstattung jedenfalls nicht unter einen Hut, auch wenn der Kiez sicherlich kein Ponyhof ist. Probleme, die nicht in dieses migrationsfeindliche Narrativ passen, wie die rechtsterroristische Anschlagsserie im Bezirk, werden dabei eher Randnotiz. Natürlich finden sich auch Medienbeiträge, die genau dies kritisch einordnen, weshalb in der Pädagogik immer Vorsicht geboten ist, wenn von „den“ Medien die Rede ist. Nichtsdestotrotz ist es auch in der Arbeit mit Jugendlichen wichtig, diese Tendenzen erkennen und benennen zu können: Ja, ihr habt recht. Da stimmt etwas nicht. Das „aber“ im Sinne einer differenzierteren Betrachtung oder die Thematisierung eines „Opfernarrativs“, in dem sich ohnehin „alle gegen die Muslime“ verschworen haben, kann nur gelingen, wenn wir genug Vertrauen aufgebaut haben. Das benötigt Zeit. Politische Medienbildung muss in Form von langfristigen Regelangeboten in allen Schulen verankert werden.
Wie kann Ihr Projekt „kiez:story“ sowie andere Angebote der politischen Bildung dazu beitragen, den Diskurs über die Migrationsgesellschaft positiv zu beeinflussen?
Eine Kernidee von kiez:story ist es ja, dass wir Jugendliche als Expert*innen behandeln. Anstatt, dass über sie gesprochen wird, sollen sie selbst zu Wort kommen. In diesem Sinne gibt es natürlich Hoffnung, dass diese Perspektiven auf „den Diskurs“ einwirken. Andererseits kommt mir das Bild einer Träne im Ozean in den Sinn, wenn es um das „große Ganze“ geht. Falls es tatsächlich unsere Hauptzielsetzung gewesen wäre, auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs einzuwirken, hätten wir kläglich versagt. Als wir mit dem Projekt 2020 begonnen haben, habe ich nämlich zuversichtlicher in die Zukunft geblickt. Der amtierende Bundespräsident Steinmeier betonte damals in einer Rede anlässlich des „60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens“: „Sie [Menschen, deren Eltern oder Großeltern als Gastarbeitende nach Deutschland gekommen sind] sind eben nicht Menschen mit Migrationshintergrund. Sondern Deutschland ist ein Land mit Migrationshintergrund geworden. Und es ist höchste Zeit, dass wir uns dazu bekennen.“ Zwei Jahre zuvor hatte der damalige Innenminister Seehofer noch sehr viel Kritik geerntet, als er die Migration als „Mutter aller Probleme“ bezeichnete. Jetzt – mit Ende unserer Modellprojektlaufzeit – sieht viel danach aus, dass genau das der politische Konsens in diesem Land ist. Für einen großen Teil der Jugendlichen in Deutschland ist das eine Zumutung. Umso wichtiger wird aber unsere Arbeit. Auch wenn wir vielleicht nicht „den Diskurs“ mit unseren bescheidenen Mitteln beeinflussen können, müssen wir weiterhin Räume schaffen, in denen Jugendliche ihre Gedanken entwickeln können und bestenfalls auch Ideen, sich das nötige Gehör zu verschaffen. Aus der Zusammenarbeit mit den jugendlichen Expert*innen bei kiez:story schöpft sich auch meine Zuversicht für die Zukunft. Es sind viele tolle Ergebnisse entstanden, die sicherlich über das Projekt hinauswirken werden. Das darf natürlich keine einmalige Geschichte bleiben. Jugendliche haben ein Recht, dass Modellprojekte wie kiez:story zum Regelangebot werden.