Anlässlich seines Todes veröffentlichen wir als Mahnung und im Gedenken seinen Aufruf für die Demokratie und gegen Rassismus, Antisemitismus und Demokratie- und Menschenfeindlichkeit, den er als seine „vor“letzte öffentliche Rede auf der Festveranstaltung „Die Verantwortung der Bildung für die Demokratie“ am 21. November 2014 anlässlich seines 85. Geburtstages hielt. Es spricht für seinen Weitblick, seine analytische Schärfe und vor allem seine Empathie, dass seine Rede in diesen Tagen wohl so aktuell ist wie noch nie.
Mein ganzes Leben habe ich als Außenseiter geführt, in der Dialektik zwischen Fremdheit und Einwurzelung, zwischen Entfremdung und Zugehörigkeit. Heute weiß ich:
Ich gehöre dazu – auch ohne Wurzeln. Ja, man kann nach Hause kommen, auch in einem fremden Land; in einen Hafen, der dich aufnimmt; in ein System der Mitbestimmung und Beteiligung, in die Zugehörigkeit zu einer Diskursgemeinschaft.
Ja, ich bin nach Hause gekommen und ich danke euch dafür.
Doch ich möchte die Gelegenheit nutzen, die ihr, liebe Freunde, mir bietet, eine letzte (oder vielleicht auch vorletzte?) Ansprache zu halten, um euch aufzurufen:
Setzt euch ein für eine gefährdete Demokratie, sucht, die Demokratie zu erhalten, sucht, die Demokratie zu entwickeln, sucht, die junge Generation Demokratie erleben lassen, Demokratie erfahren, Demokratie wachsen zu lassen. Davon sind wir weit entfernt. Die Demokratie ist gefährdet – mehr als seit langem, mehr als je seit den großen Krisen des 20. Jahrhunderts, mehr als je seit Faschismus und Stalinismus.
Vor einigen Jahren habe ich in einem Aufsatz auf die Analyse von Münkler und Wassermann („Was hält eine Gesellschaft zusammen. Sozialmoralische Ressourcen der Demokratie“ 2008) zurückgegriffen, die die soziomoralischen Ressourcen der Demokratie durch solidaritätszerstörende Prozesse der Individualisierung und der Globalisierung gefährdet sehen: Denn Individualisierung und Globalisierung schränken die Steuerungsfähigkeit des Gemeinwesens ein und setzen der Integrationsfähigkeit der Gesellschaft deutliche Grenzen. Marktversagen und Finanzkrise gefährden die demokratische Ordnung, desolidarisieren die Bürger.
Wachsende Armut, die Schere zwischen arm und reich, die durch das Bildungssystem auf Dauer gestellte Bildungsarmut fördern die Spaltung, den Zwiespalt in der Gesellschaft, gefährden den sozialen Zusammenhalt, zerstören die soziomoralischen Ressourcen der Demokratie.
Wir sehen antidemokratische Aufmärsche, rechtsnationalistische Jugendliche, die islamistische Radikalisierung, die soziokulturelle Segregation der Einwanderungsgesellschaft – wachsende Aversion gegen ein demokratisch geregeltes, transnationales Europa. Wo bleibt die Demokratie in dieser Gemengelage?
In den Blättern für deutsche und internationale Politik hat Michael Zürn 2011 den Bedeutungsverlust demokratischer Institutionen und Verfahren zugunsten von Konsensfindungsprozessen in privilegierten Eliten thematisiert, die sich von demokratischen Prozessen abschotten. Das wird gegenwärtig sogar (wenn auch leise und vorsichtig) im Freihandelsabkommen zwischen Europa und Amerika verhandelt. Während die sozialen Armutsprozesse laut und aggressiv antidemokratisch tönen, so rufen finanziell-fiskalische und ökonomische Prozesse leise, doch nachhaltig, zur Entdemokratisierung auf. Debatten, sagt Zürn, sind aus den Parlamenten in die Talkshows abgewandert, Parteien, Parlamente und Regierungen verlieren an Zustimmung. Die Teilnahme an Wahlen nimmt ab, zuförderst in der jungen Generation. In Deutschland trauen über 80 Prozent den Parteien und dem Parlament „nicht sehr“ oder „gar nicht“!!
In den intergenerationellen Konflikten und innergesellschaftlichen Entwicklungsverzerrungen sieht Zürn eine weitere Quelle der Gefährdung der Demokratie: die erfolgreiche Entwicklung eines autoritären Kapitalismus mit einer verführerischen Gemeinwohlkomponente bei gleichzeitiger Beschränkung der Menschenrechte: eine systematische, eine nachhaltige Verweigerung der Demokratie. In China scheinen autoritäre, doch sachkundig regierende kapitalistische Eliten in hohem Maße Zustimmung zu genießen – eine intensive und bleibende Gefahr für die Demokratie!
Doch wie klingt das System der Demokratie, das wir der jungen Generation in den Schulen von heute nahebringen wollen und dadurch zugleich die Schulen den Kinderrechten gemäß verändern?
Politische Anerkennung, zivile Wirksamkeit und soziale Verantwortungsübernahme in diskursiven Prozessen, in denen es um gerechte gesellschaftliche Verhältnisse und faire Bedingungen des sozialen Handelns geht. Doch dies sind Kompetenzen, die erworben werden müssen und die nicht auf Märkten blühen. Und um sie erwerben zu können, braucht es Gelegenheiten, und um diese – dem Wesen der Demokratie entsprechend – für alle bereitzuhalten, braucht es Gelegenheiten für alle, und für alle wirksam und gleich: das Bildungssystem als Gelegenheitsstruktur zum Erwerb von Kompetenzen für die Demokratie!
Wir haben in der DeGeDe aus amerikanischer Prozesspädagogik (nach Dewey), aus französischer Institutionenpädagogik (nach Freinet) und aus deutscher Reformpädagogik den Klassenrat als Instrument des erfahrungsgeleiteten Lernens der Demokratie, des diskursiven Erwerbs demokratischer Kompetenzen, als Praxis der Selbstverwaltung, der repräsentativen Vertretung und des sozialen Engagements geformt. Doch wir haben den Klassenrat noch nicht hinreichend funktional für diese Aufgaben beschrieben. Noch kann er allzu leicht als bloße Schülervertretung, als Repräsentationsorgan, als pädagogisches Instrument missverstanden werden. Eine Hausaufgabe der DeGeDe muss es sein, den Klassenrat als demokratische Erfahrungsbasis, als institutionell gesicherten, nachhaltig wirksamen demokratischen Lernprozess so zu entwickeln, zu beschreiben und in Schulen heimisch zu machen, dass die im Klassenrat erworbene Diskurs- und Handlungspraxis die demokratische, soziale und politische Praxis der zukünftig Erwachsenen vorwegnimmt, diese institutionalisiert und gegen die aktuellen demokratiezersetzenden, demokratiefeindlichen und demokratiegefährdenden Prozesse aktiv und wirksam erhält.
Wir haben dem Klassenrat ein weiteres Instrument zur Seite gestellt: den Demokratiepreis für demokratiepädagogische Entwicklung von Schulen. Demokratie erleben und Demokratie entwickeln ist die konstruktive Antwort auf die von Münkler und Zürn beschriebenen Herausforderungen; der Demokratiepreis bietet den Schulen als den Konstrukteuren und ihren Entwürfen der Zukunft in der Gegenwart Anreiz und Anerkennung für die Gestaltung einer Lebenswelt, in der Demokratie nachhaltig erlebt und – nicht zuletzt mithilfe des Klassenrats – zukunftsträchtig entwickelt wird.
Demokratie in der Schule ist die Gestalt einer schulischen Lebenswelt, in der Anerkennung des anderen, die eigene Handlungswirksamkeit und die Übernahme von Verantwortung in der Gemeinschaft das soziale Handeln bestimmen. Der Klassenrat: als Verfassung demokratischen Handelns in der Gruppe; der Demokratiepreis: als Anerkennung der demokratischen Gestaltung des schulischen Handelns.
Jetzt müssen wir noch Wege und Mittel finden, um die Lehrer davon zu überzeugen, aus ihren Schulen demokratische Schulen zu machen, das Leben in den Schulen, das Leben der Schüler, den Kinderrechten entsprechend und demokratisch zu gestalten. Klassenrat und Demokratiepreis sind Schritte auf diesem Weg.
Ich komme zum Schluss. Ich habe versucht, rational und aus Einsicht zu reden. Jetzt rede ich aus (und mit) Gefühl. Ich habe ein tiefes Gefühl des Dankes für diesen tollen Tag, für dieses wundervolle Geschenk eines denkwürdigen Tages, der Zusammengehörigkeit signalisiert und der Zusammengehörigkeit bestätigt.
Mein besonderer Dank gebührt dem Vorstand der DeGeDe, Kurt Edler, und dem Vorstand der DeGeDe, der diesen Tag beschlossen, geplant und organisiert hat. Und ganz besonderer Dank gebührt Winfried Kneipp und der Mercator-Stiftung, die ihn ermöglicht hat.
Ganz besonders möchte ich an dieser Stelle Ulrike Kahn danken, die die Last des Tages mehr als alle anderen zu tragen hatte und dies mit besonderem Engagement, großer Liebenswürdigkeit und hoch effizient getan hat – gemeinsam mit Vincent Steinl und Josef Blank, deren Geschick und Organisationstalent Ulrikes Last immer wieder ein wenig erleichtern konnte. Ich danke euch von Herzen.
Ich weiß nicht wie ich Sylvia Löhrmann danken könnte – der Vorsitzenden der KMK, die mit ihrem Beitrag zu dieser Veranstaltung ein Zeichen gesetzt hat, das hoffentlich viele in unserer Gesellschaft hören. Und wie sollte ich Präsidentin Vigdis Finnbogadottir Dank für eine lebenslange Freundschaft sagen, die mich bereits in frühen Jahren in Island geschützt und willkommen geheißen hat? Und schon gar nicht weiß ich Gesine Schwan für die Laudatio zu danken, die sie auf mich gehalten hat. Lob kann der Empfänger nie realitätsgerecht bewerten – das müssen stets die anderen tun. Doch was es für den Empfänger selbst bedeutet, kann seinen Blick auf das eigene Leben ändern. Ich danke dir, Gesine, für diese Ordnung meiner Tage.
Mein besonderer Dank gilt Peter Fauser, der mein als produktiv bewertetes Handeln in der vergangenen Dekade meiner Biografie mit initiiert und mitgestaltet hat. Die Kraft seines Wortes und seiner Gedanken hat er heute erneut sowohl nachträglich als auch zukunftsfest unter Beweis gestellt. Wir alle brauchen deine Gedanken, wir alle hören auf sie!
Doch all dies hätte nicht sichtbar werden können, wenn nicht Botschafter Gunnar Snorri Gunnarsson mit einmaliger Generosität und freundschaftlicher Gesinnung die Tore der nordischen Botschaften für uns weit geöffnet hätte und – wie einst Island selbst – den Flüchtlingen von einst gastlich willkommen geheißen hätte; ich möchte auch seiner liebeswerten Mitarbeiterin Soffia Gunarsdotter meinen herzlichen Dank für ihren nachhaltigen Beitrag zu diesem Fest sagen
Zu guter Letzt, doch nicht zuletzt, danke ich Vikingur Heidar Olafsson, dem isländischen Pianisten, für die musikalische Begleitung dieses Tages. Für das Kind eines Musikers ist dies kein unbedeutender Hintergrund eines verbalen Geschehens im Vordergrund. Vikingur hat damit – wohl ohne es zu wissen – ein Leitthema meines gesamten Lebens symbolisch artikulierend.
Euch allen, liebe Freunde
meinen herzlichen, meinen tief empfundenen Dank
Wolfgang Edelstein