Gespräche zu Demokratie, Bildung und Teilhabe in der Migrationsgesellschaft mit
Prof. Dr. phil. Yasemin Karakaşoğlu & Dr. Dennis Barasi
Strategisches Schweigen im Diskursraum Lehramtsseminar
Prof. Dr. phil. Yasemin Karakaşoğlu, Studium der Turkologie, Politikwissenschaft, Neueren Deutschen Literatur an der Universität Hamburg, 1991-2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Türkeistudien/Essen, sowie der Universität Duisburg-Essen. Seit 2004 Professorin für Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Bremen, 2011-2017 Konrektorin für Internationales und Diversität, 2009-2015 Mitglied des SVR Integration und Migration, 2016-2023 DAAD-Vorstandsmitglied, 2019-21 Vorsitzende des Rats für Migration e.V.. Sie lehrt, forscht und publiziert vor allem zu Migration, Transnationalität, Geschlecht und Religion (Schwerpunkt Antimuslimischer Rassismus) im Kontext von (Hoch-)Schulentwicklung und Lehrer*innenbildung. Auszeichnungen: 2000 Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien; 2014 Bremer Diversity-Persönlichkeit, 2021 Bundesverdienstorden.
Dr. Dennis Barasi absolvierte sein Lehramtsstudium 2016 mit den Fächern Mathematik und Geschichtswissenschaft an der Universität Bremen. Anschließend arbeitete er bis 2022 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lektor am Arbeitsbereich Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Bremen. In dieser Zeit untersuchte er im Rahmen seiner Promotion die Professionalisierung von Lehramtsstudierenden rassismuskritisch. Seitdem arbeitet er als Lektor am selbigen Arbeitsbereich. Barasis Arbeitsschwerpunkte sind Rassismuskritik, politische und weltanschauliche Positionierung, Lehrer*innenprofessionalisierung in der Migrationsgesellschaft und die Grounded Theory Methodology. Seine Masterarbeit „Rassismusbezogene Deutungsmuster am Beispiel der Diskussion zur Flüchtlingspolitik im universitären Raum“ wurde 2018 mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien ausgezeichnet.
Sie sind Erziehungswissenschaftler*innen mit einem Forschungsschwerpunkt auf der kritischen Migrationsforschung. In welchem Verhältnis steht dazu die Demokratiebildung?
Kritische Migrationsforschung untersucht gesellschaftliche Machtverhältnisse und damit verbundene Ausschlüsse, insbesondere in Bezug auf marginalisierte Gruppen im Migrationskontext. Im Sinne des Beutelsbacher Konsens zielt Demokratiebildung in der Schule darauf ab, fächerübergreifend wichtige demokratierelevante Inhalte und Methoden zu vermitteln, welche die Schüler*innen dazu in die Lage versetzen, eine politische Situation und die eigene Interessenlage zu analysieren, um an politischen Prozessen teilhaben zu können (Subjektorientierung). Zentral sind dabei für die pädagogische Vermittlung die Prinzipien des Überwältigungs- bzw. Indoktrinierungsverbots, des Kontroversitätsgebots, d.h., dass was in Politik und Wissenschaft kontrovers diskutiert wird, auch im Unterricht auch als kontrovers zu behandeln ist.
Die kritische erziehungswissenschaftliche Migrationsforschung bietet wichtige Impulse für diese Zielsetzungen, indem sie migrationsgesellschaftliche Ungleichheiten und damit einhergehende strukturelle Ausschlussmechanismen bis hin zu rassistischer Diskriminierung im Feld von Bildung und Erziehung aufzeigt und thematisiert. Diese zu erkennen und ihnen entgegen zu wirken ist in höchsten Maße relevant für die Demokratiebildung, denn ungleiche Bildungschancen sowie jegliche Art von Diskriminierung und Rassismus verstoßen gegen demokratische Grundprinzipien. Partizipation aller ist ein Grundpfeiler der demokratischen Legitimation und Verfasstheit der Gesellschaft.
In diesem Zusammenhang haben Sie eine Studie durchgeführt, in der universitäre Vermittlungsprozesse von Reflexionswissen und Kompetenzen im Lehramtsstudium aus rassismuskritischer Perspektive untersucht wurden – worum ging es genau?
Die Studie „Studieren unter Bedingungen des ökonomisierten Lehramtsstudiums – Eine rassismuskritische Perspektive auf Professionalisierungsprozesse angehender Lehrer*innen“ wurde von Dennis Barasi durchgeführt und von Yasemin Karakaşoğlu als Erstgutachterin betreut. Die Studie geht der Frage nach, inwiefern eine rassismuskritische Professionalisierung von Lehramtsstudierenden unter den Bedingungen der sich im Lehramtsstudium verdichtenden, ökonomisierten Studienstrukturen stattfinden kann. Ökonomisierte Studienstrukturen meint in diesem Zusammenhang ein Lehramtsstudium, das in seiner Ausrichtung auf Effizienz (insbesondere im Verhältnis von Zeit- und Ressourcenökonomie zur Vermittlung von professionsrelevanten Kompetenzen) nach Kriterien einer quasi betriebswirtschaftlichen Outputorientierung ausgerichtet ist. Hierzu werden Vermittlungsprozesse von Reflexionswissen und Kompetenzen unter diesen spezifischen Bedingungen des Lehramtsstudiums aus rassismuskritischer Perspektive untersucht.
Im Rahmen der Studie wurden umfangreiche, teilweise über zwei Semester reichende Teilnehmende Beobachtungen in erziehungswissenschaftlichen und physikdidaktischen universitären Lehrveranstaltungen einer anderen Universität durchgeführt. Forschungsgespräche mit beteiligten Studierenden ergänzen die empirische Grundlage der Studie, wobei Feldbeobachtungen die Gesprächsanlässe und -inhalte generierten. Dieses Vorgehen ermöglichte unmittelbare Einsichten in ausgewählte Lehrveranstaltungen.
Aus dem so erhobenen Datenmaterial wurde das Strategische Schweigen als analytische Kernkategorie herausgearbeitet. In ihr verdichten sich professionalisierungsrelevante Haltungen und Umgangsweisen von Studierenden in universitären Veranstaltungen in Reaktion auf die seitens Dozent*innen oder Kommiliton*innen vorgenommene, explizite Thematisierung gesellschaftlich kontrovers diskutierter Anforderungen an Schule und Pädagogik. Das Strategische Schweigen bezeichnet eine demokratietheoretisch für den Kontext von Schule und die Professionalisierung von angehenden Lehrkräften äußerst relevante Strategie des Verhaltens dieser Studierendengruppe in Lehrveranstaltungen. Sie dient dazu, durch Schweigen und andere Formen, sich dem Gegenüber nicht offenbaren zu müssen (etwa Blickvermeidung) Konflikte mit anderen Seminarteilnehmer*innen (und auch mit der Lehrperson) über von ihnen als „politisch kontrovers“ – gleichgesetzt mit problematisch – wahrgenommenen Themen zu vermeiden.
Welche Formen des strategischen Schweigens habt ihr dabei herausgearbeitet?
Es konnte beobachtet werden, dass Studierende sich selbst zuweisen zu schweigen, wenn sie antizipieren, dass ihre persönlichen Haltungen zu einem gesellschaftlich relevanten Thema nicht den Meinungen entsprechen, von denen sie annehmen, dass diese in der Universität oder in einem bestimmten Fachbereich vorherrschend. Darüber hinaus weisen rassismussensibel orientierte Studierende auch ihren Kommiliton*innen zu, strategisch zu schweigen, um sich mit ihren rassismusrelevanten Privilegien nicht auseinander setzen zu müssen und zu verhindern, dass diese im Seminar thematisiert werden können. Diese Strategie kann sich – wie in unserem Beitrag beschrieben – darin ausdrücken, dass Studierende sich nicht an Diskussionen beteiligen, aber auch darin, dass Student*innen bewusst den Besuch solcher Wahlpflichtveranstaltungen vermeiden, die als politisch wahrgenommene Themen wie Inklusion oder Rassismus thematisieren und stattdessen als ´neutral´ wahrgenommene Alternativveranstaltungen wählen, wie z.B. Veranstaltungen zum Thema Digitale Medien oder zum Umgang mit Schüler*innenvorstellungen zu Brüchen im Mathematikunterricht.
Bei diesen Studierenden äußert sich in der Vermeidung des Besuchs einer explizit auf die Auseinandersetzung mit Rassismus ausgerichteten Lehrveranstaltung die Vorstellung, dass diese lediglich für diejenigen relevant sei, die entweder als Opfer oder als Täter in Rassismus involviert seien, beides Positionen, mit denen sie sich nicht identifizieren.
Und nun zum Schluss: wie bringt ihr das nun zusammen mit der Lehrkräfteausbildung? Was ist euer Fazit?
Für die Lehrkräfteausbildung bedeutet das, dass wir darüber nachdenken müssen, wie wir in Lehrveranstaltungen der Erziehungswissenschaft, die wir als grundlegend demokratiebildend verstehen, einen Raum schaffen können, der die Partizipation aller Lehramtsstudierenden an fachlich fundierten Reflexionen zu gesellschaftlich und damit pädagogisch relevanten (und umkämpften!) Kernthemen wie Inklusion und Rassismus (oder auch Gender, Klimawandel etc.) ermöglicht. Hierbei ist es auch wichtig, das gegenläufige Positionen nicht in einer moralisierenden Art und Weise unbenannt und unreflektiert aus dem Diskurs verwiesen werden. Weiterhin stellt sich die Frage, wie erziehungswissenschaftliche Seminare dem Umstand gerecht werden können, dass sich die Lehramtsstudierende zusätzlich zur jeweils unterschiedlichen Positioniertheit und den damit verbundenen (alltagsweltlichen) Erfahrungen – durch das Studium unterschiedlicher Fächer entsprechend diverse Zugänge zu migrationsgesellschaftlich relevantem Wissen aneignen. Daran schließt die Frage an, wie solche Lehrveranstaltungen didaktisch strukturiert sein müssen, um einen theoretisch fundierten wie auch biographisch angemessenen reflexiven Zugang zu gesellschafts- und damit allgemeindidaktisch relevanten Themen für eine in vielfacher Hinsicht, nicht zuletzt bezogen auf die gewählte Fächerkombination und die damit verbundenen Fachkulturen, äußerst heterogene Gruppe von Lehramtsstudierenden zu ermöglichen. Uns erscheint vor allem die Lösung der Problematik vorrangig, dass an vielen universitären Standorten der Lehrer*innenbildung derartige Veranstaltungen lediglich als Wahlelemente im Lehramtsstudium verankert sind und so auch ‚umgangen‘ werden können. Wir müssen gewährleisten, dass eine reflexive Auseinandersetzung mit zentralen pädagogischen und damit auch gesellschaftspolitisch wie demokratietheoretisch relevanten Fragen im Lehramtsstudium für alle gewährleistet wird.