Gespräche zu Demokratie, Bildung und Teilhabe in der Migrationsgesellschaft mit

Dr. Michael Bigos

Demokratische Räume in der Migrationsgesellschaft 
Dr. Michael Bigosist Vertretungsprofessor für Soziologie und Internationale soziale Arbeit an der Fachhochschule Erfurt. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind soziale Ungleichheit, Demokratiebildung, Diversität und (digitale) Teilhabe. Außerdem leitet er das digiLab an der Universität Mainz.
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Bitte stellen Sie uns doch gern zuerst Ihre Arbeit im Hinblick auf das Thema "Bildung und Migrationsgesellschaft" dar.

In meiner Arbeit beschäftige ich mich intensiv mit sozialen Ungleichheiten und deren Auswirkungen auf Bildung und gesellschaftliche Teilhabe, gerade im Kontext von Migrationsgesellschaften.  

Ein weiterer Aspekt, mit dem ich mich auseinandersetze, sind diskriminierende Einstellungen, die in der Bevölkerung verbreitet sind und oft auch unbewusst wirken. Diese Einstellungen beeinflussen, welche Bevölkerungsgruppen Gehör finden und welche nicht. In einer Migrationsgesellschaft, in der vielfältige Identitäten und Perspektiven aufeinandertreffen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass alle Stimmen gehört werden. Die Realität zeigt jedoch, dass sog. Migrant:innen häufig marginalisiert werden, was ihre politische Teilhabe erheblich einschränkt. Ich werfe also den Blick darauf, wie soziale Ungleichheit und Diskriminierung miteinander verwoben sind und welche strukturellen Hindernisse Migrant:innen davon abhalten, aktiv am politischen Leben teilzunehmen. Diese Fragen sind besonders relevant, da politische Partizipation eine wesentliche Voraussetzung für Integration und gesellschaftlichen Zusammenhalt sind. Wenn bestimmte Gruppen nicht in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden werden, führt dies nicht nur zu einer verzerrten Sichtweise der gesellschaftlichen Bedürfnisse, sondern auch zu einem Verlust an Vertrauen in die politischen Institutionen. 

Das ist somit nicht nur Theorie und abstrakte Worte, sondern es hat direkte Auswirkungen auf die Frage wie eine Migrationsgesellschaft gerecht und diskriminierungssensibel nach innen wirken kann.  

Daneben ist es aber auch Kern meiner Arbeit diese Themen für angehende Lehrkräfte und Sozialarbeiter:innen aufzubereiten, sichtbar zu machen und in die Ausbildung dieser Multiplikator:innen einfließen zu lassen. Denn in Schulen und sozialen Einrichtungen wird Bildung in der Migrationsgesellschaft vom abstrakten Thema zum tagtäglichen Leben. 

Zuerst die Frage, was verstehen Sie unter dem Begriff „Migrationsgesellschaft“? 

Unter dem Begriff „Migrationsgesellschaft“ verstehe ich, dass Gesellschaft komplexe und dynamisch ist. Hier treffen kulturelle, ethnische und sprachliche Diversität aufeinander. Die Gesellschaft entsteht durch die Interaktion unterschiedlicher Akteure, die auch Migrationserfahrungen mitbringen. Der Begriff geht über „Einwanderungs- oder Zuwanderungsgesellschaft“ hinaus und fordert eine differenzierte Betrachtung der politischen Dimension von Migration.  In der Gesellschaft sind Herausforderungen wie systemische Diskriminierung oder negative Abgrenzungen omnipräsent, bei dem Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Kultur als zugehörig oder nicht zugehörig angesehen werden. Dies führt häufig dazu, dass Personen mit Migrationsgeschichte von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen werden und ihre Stimmen in politischen und sozialen Diskursen nicht ausreichend gehört werden.  In der Migrationsgesellschaft gilt es diese Ungleichheiten und diese Abgrenzung sichtbar zu machen und die Notwendigkeit eines inklusiven Zusammenlebens zu betonen, die alle Mitglieder der Gesellschaft einbezieht. Gleichzeitig aber auch mehr und mehr allgemeingültig wird, dass Migration nicht nur ein vorübergehendes Phänomen ist, sondern eine dauerhafte Realität, die die Gesellschaft tiefgreifend verändert und Nationalstaaten nur in begrenzter Form Gesellschaften repräsentieren können. 
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Welche zentralen Herausforderungen sehen Sie in Bezug auf die demokratische Migrationsgesellschaft? 

Erstens besteht ein erhebliches Spannungsverhältnis zwischen den Grundprinzipien der Demokratie, wie Partizipation, Gleichheit und Meinungsfreiheit, und der Realität, dass diese Prinzipien oft nicht für alle Menschen in der Gesellschaft gelten. Insbesondere Menschen mit Migrationsgeschichte sind häufig von politischer und sozialer Teilhabe ausgeschlossen. 

Zweitens zeigt sich die Problematik der systemischen Diskriminierung und des „Othering“, wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder kulturellen Identität als „anders“ betrachtet werden. Diese Wahrnehmung führt dazu, dass ihre Stimmen in politischen Diskursen oft marginalisiert werden, was auch die Repräsentation in politischen Ämtern erheblich beeinträchtigt. Laut aktuellen Statistiken ist der Anteil der Mandatsträger:innen aus der migrantischen Community im Bundestag deutlich niedriger als der Bevölkerungsanteil. 

Drittens stellt die ungleiche Verteilung von soziale Partizipationsmöglichkeiten ein weiteres Hindernis dar. Viele Menschen begegnen Hürden beim Zugang zu Bildung, Arbeitsmarkt und politischen Entscheidungsprozessen, die ihre Fähigkeit zur aktiven Teilhabe an der Gesellschaft einschränken. Diese Herausforderungen führen zu einem „participation gap“, der die soziale Integration und die politische Mitgestaltung weiter erschwert. 

Zusammengefasst ist es unerlässlich, diese strukturellen Barrieren zu identifizieren und abzubauen, um eine wirklich inklusive und demokratische Migrationsgesellschaft zu schaffen, in der alle Mitglieder gleichberechtigt an der politischen und sozialen Gestaltung teilhaben können. 

Welche Lösung schlagen Sie vor? 

Es ist entscheidend, die politische Bildung und Demokratieerziehung zu stärken, insbesondere im Hinblick auf inklusives Lernen. Dies bedeutet, dass Bildungseinrichtungen Programme entwickeln sollten, die die Vielfalt der Erfahrungen und Perspektiven von Menschen mit Migrationshintergrund einbeziehen. Solche Programme sollten darauf abzielen, das Bewusstsein für Diskriminierung zu schärfen und die Bedeutung von Partizipation zu vermitteln, um ein Gefühl der Zugehörigkeit und Verantwortung für alle zu fördern.  Darüber hinaus sollte die Repräsentation benachteiligter Gruppen in politischen Ämtern gezielt gefördert werden. Eine diverse politische Landschaft ist entscheidend, um die Bedürfnisse aller Bürger:innen angemessen zu vertreten und das Vertrauen in demokratische Institutionen zu stärken.  Drittens ist es notwendig, Barrieren abzubauen, die den Zugang zu politischen und sozialen Teilhabemöglichkeiten erschweren. Dazu gehören beispielsweise die Vereinfachung von Einbürgerungsverfahren, der Zugang zu Sprachkursen und Integrationsprogrammen sowie die Schaffung von Unterstützungsstrukturen, die den Austausch zwischen verschiedenen Kulturen fördern.  Schließlich ist eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Vorurteilen und Diskriminierung unerlässlich. Öffentlichkeitskampagnen, die auf Sensibilisierung und Empathie abzielen, können helfen, stereotype Denkmuster zu überwinden und eine Kultur des gegenseitigen Respekts und der Anerkennung zu fördern.  Insgesamt erfordert die Schaffung einer gerechten und demokratischen Migrationsgesellschaft ein umfassendes Engagement aller gesellschaftlichen Akteure, um eine inklusive und partizipative Realität für alle Menschen zu ermöglichen. 
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Und zuletzt, was würden Sie sagen sind die zentralen Aspekte für ein Gelingen von Demokratiebildung in der Migrationsgesellschaft? 

Inklusion ist ein grundlegender Aspekt. Demokratiebildung muss für alle Menschen zugänglich sein, unabhängig von ihrer Herkunft oder ihrem sozialen Status. Programme sollten darauf abzielen, die Vielfalt der Erfahrungen und Perspektiven aller Facetten der Gesellschaft zu berücksichtigen und sicherstellen, dass alle Stimmen gehört werden. Dies erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit Diskriminierung und Vorurteilen sowie die Förderung eines respektvollen und offenen Dialogs. 

Menschen müssen die Möglichkeit haben, aktiv an politischen und gesellschaftlichen Prozessen teilzunehmen. Demokratiebildung sollte daher nicht nur theoretische Kenntnisse vermitteln, sondern auch praktische Erfahrungen ermöglichen, beispielsweise durch die Teilnahme an Entscheidungsprozessen, Bürgerforen oder Workshops. Solche Erfahrungen fördern das Gefühl der Zugehörigkeit und die Bereitschaft, sich einzubringen. 

Die Sensibilisierung für strukturelle Ungleichheiten ist dafür eine wichtige Voraussetzung. Bildungsangebote müssen die spezifischen Herausforderungen der Migrationsgesellschaft sichtbar machen und Wege aufzeigen, wie diese Barrieren überwunden werden können. Eine kritische Reflexion über gesellschaftliche Machtverhältnisse und Privilegien trägt dazu bei, ein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Gerechtigkeit und Chancengleichheit zu schaffen. 

Schließlich ist die Kooperation zwischen Bildungseinrichtungen, politischen Akteuren und der Zivilgesellschaft von großer Bedeutung. Der Austausch von Wissen und Ressourcen kann dazu beitragen, effektive Demokratiebildungsprojekte zu entwickeln. 

Insgesamt erfordert die erfolgreiche Demokratiebildung in der Migrationsgesellschaft ein ganzheitliches Konzept, das Inklusion, Partizipation, Sensibilisierung und Kooperation miteinander verbindet, um eine gerechte und demokratische Zukunft für alle zu fördern.

Dr. Michael Bigos