Kurt Edlers These ist, dass es die europäische Demokratie zukünftig mit eher unterschwelligen Formen von Menschenrechtsfeindlichkeit zu tun bekommen wird, die unter der Messlatte für Extremismus liegen, aber nichtsdestotrotz die freie Gesellschaft bedrohen. Deshalb erscheint es ihm ebenso reizvoll wie notwendig, populäre Denkgewohnheiten kritisch unter die Lupe zu nehmen und auch die Frage zu stellen, welche gesellschaftlichen Kräfte sie bedienen und verstärken.
Oft machen wir den Fehler, von Politik nur im Sinne des Systems zu reden und dabei zu verkennen, dass die alltäglichen menschlichen Beziehungen auch „politisch“ sind. Sie sind nicht selten aufgeladen mit Emotionen und Symbolen, die politisch anschlussfähig, aber eben auch ausbeutbar sind. Angst, Scham, Neid, Ekel, Abscheu, Missgunst und Wut können in „politische Emotionen“ [1] verwandelt werden und dann das friedliche und gedeihliche Zusammenleben von Menschen bedrohen.
In alltagsweltlichen Denkmustern die Anknüpfungspunkte für populistische Demagogie aufzuspüren, ist deshalb ein vielversprechender Ansatz. Erlebte Argumentationssituationen zu erzählen und dann gemeinsam zu reflektieren, kann in Fort- und Weiterbildung zu einem wertvollen Instrument werden, um eine Selbstschulung im politischen Denken zu ermöglichen und persönlich im demokratischen Auftritt sicherer und überzeugender zu werden.
Digitale Selbstermächtigung
Dass sich in unserer Gegenwart – für viele überraschend und beunruhigend – anti-humane, aggressive Verhaltensmuster und Sprachcodes verbreitet haben, hat viel mit der neuen Autonomie zu tun, die uns das Internet verleiht, verbunden mit der Möglichkeit, aus dem Off Personen und Personengruppen anzugreifen. Damit einher geht die Erfahrung der Verwundbarkeit: Morddrohungen per Email werden nach erfolgter Anzeige von der Staatsanwaltschaft mit der lakonischen Mitteilung kommentiert, der Verursacher sei nicht zu ermitteln.
Der Neurophysiologe und Systemtheoretiker Prof. Dr. Peter Kruse sprach schon vor einigen Jahren vor der Bundestags-Enquêtekommission „Internet und digitale Gesellschaft“ von einer Revolution. Seine Kernthese: Es gebe eine grundlegende Machtverschiebung vom Anbieter zum Nachfrager. „Wir haben“, so seine Einschätzung, „die Vernetzungsdichte in der Welt gravierend erhöht und dann, mit dem Web 2.0, die Spontanaktivität hochgejagt.“ Durch die Retweet-Funktionen wie bei Twitter seien kreisende Erregungen im Netz erzeugt worden. Wenn alles drei zusammenkomme, hätten die Systeme eine Tendenz zur Selbstaufschaukelung. Sie könnten plötzlich mächtig werden, ohne dass man vorhersagen könne, wo genau das dann passiert. „Die Menschen“, sagte Kruse vor dem Ausschuss, „haben das für sich entdeckt.“
Ihre erste Motivation im Netz sei Information gewesen. Dann hätten sie die Möglichkeit entdeckt, sich selber darzustellen, also Spuren zu hinterlassen. „Und was die Menschen momentan merken, ist, dass man über die Netze mächtig werden kann. Die Menschen schließen sich zu Bewegungen zusammen.“ Was nun ablaufe, sei kaum mehr vorhersagbar, weil man es mit nichtlinearen Systemen zu tun habe. Vorhersagen zu machen, sei „eine Frage der Empathie – was zur Zeit resonanzfähig ist in den Systemen“. Es gehe um das Gefühl für die Resonanzmuster der Gesellschaft. „Wir müssen uns klarmachen“, so Kruse im Fazit, „dass Macht sich neu definiert. Macht sitzt beim Nachfrager, nicht beim Anbieter. Das heißt, wir bekommen einen extrem starken Kunden, wir bekommen einen extrem starken Mitarbeiter, und wir bekommen einen extrem starken Bürger.“ [2]
Eine ganz andere Art von Basisdemokratie
Viele sich als politisch progressiv verstehende Konzepte früherer Jahrzehnte waren darauf erpicht, dem Einzelnen mehr individuelle Gestaltungsspielräume zu öffnen. Von der Achtundsechziger-Bewegung in der alten Bundesrepublik bis zur DDR-Bürgerrechtsbewegung lag die Hoffnung auf eine bessere politische Zukunft darin, unmittelbare Beteiligungsformen zu stärken – so, wie sie heute lautstark von den französischen Gelbwesten gefordert werden. Damit ist immer eine Kritik am Parlamentarismus verbunden, der als zu ausschließend und zu abgehoben gegeißelt wird. In die deutschen Länderverfassungen sind, wie z.B. in Hamburg mit dem maßgeblich von den Grünen favorisierten Volksabstimmungsgesetz, plebiszitäre Elemente eingeführt worden. Kerngedanke aller dieser Reformen ist, das Volk müsse selbst entscheiden dürfen. Mit diesem Imperativ verband sich die schlichte Hoffnung, es könne das auch und es entscheide sich für das Gute und Vernünftige.
Ich schrieb dies an einem Tag Anfang Februar 2019, der für die EU äußerst düster war, weil sich in Großbritannien das Unterhaus in eine schier ausweglose Situation manövrierte: Die Volksabstimmung vom Juni 2016 für einen Austritt aus der Union soll respektiert werden, aber niemand weiß, wie dieser Austritt ohne immensen Schaden realisiert werden kann. Zwielichtige Matadore des „Volkswillens“ wie Nigel Farage und Boris Johnson haben auf der Klaviatur der politischen Emotionen gespielt, indem sie das Narrativ einer nationalen Kränkung und Erniedrigung durch die EU verbreiteten. Und die knappe Mehrheit ist offenbar auch mit der manipulativen Kraft von Social Media erreicht worden, die durch zielgruppengenaue Ansprache die „Brexit“-Stimmung angeheizt haben. Besonders absurd ist, dass ausgerechnet dort im Vereinigten Königreich, wohin besonders viele EU-Fördermittel gingen, besonders viele Menschen pro Austritt gestimmt haben.
Demokratie und Verantwortung
Längst hat sich bei uns in Deutschland auch regional die Begeisterung des links-liberalen Spektrums für Plebiszite verflüchtigt. Denn allzu oft ist mittlerweile mit Hilfe einer Volksabstimmung nicht ein egalitäres, sondern ein elitäres Ziel durchgesetzt worden. Gegen ein längeres gemeinsames Lernen in der Schule stimmte in Hamburg im Juli 2010 eine Mehrheit im Volksentscheid – eine schallende Ohrfeige für ein Landesparlament, das sich – von CDU bis Linkspartei – einmütig für die sechsjährige Grundschule stark gemacht hatte. Nachdenklich machen sollte vielleicht auch die Unterstützung für plebiszitäre Verfahren auf der äußersten Rechten. Wer das NPD-Programm liest, wird feststellen, dass diese verfassungsfeindliche Partei zwar gegen den Parlamentarismus polemisiert, sich aber zugleich für Volksabstimmungen einsetzt; so z.B. für die Direktwahl des Bundespräsidenten durch das Volk.
Bei politisch radikalen Kräften von links und rechts steht hinter dieser Option immer die Sehnsucht nach einem totalen Clash mit den herrschenden Verhältnissen. Ein politischer Wandel soll nicht auf dem Wege einer mühseligen, differenzierten Abwägung und Kompromissbildung vieler Beteiligter und Interessenten erreicht werden, sondern durch einen triumphalen Showdown. So betrachtet, ist diese Option der radikale (Alb-)Traum, „reinen Tisch“ mit der alten Ordnung zu machen, ohne sich auf Einzelheiten einzulassen.
Das Problem dieses Verfahrens ist: Das Volk sagt in einer Sache einmal Ja oder Nein, und dann schweigt es wieder. Es ist kein kollektiver Prozessakteur und kann es auch nicht sein. Komplexe Angelegenheiten müssen auf ganz wenige oder sogar eine einzige entscheidbare Alternative reduziert werden. „Wie hattest du, liebes Staatsvolk“, könnte man die UK-Beteiligten vom 23.6.2016 fragen, „das mit dem Brexit gemeint?“ Das war nicht klar, ist nicht klar, bleibt im Unterhaus umstritten und ist gegenwärtig, wo ich diesen Text noch einmal anfasse, völlig offen, weil sich nun, Mitte Mai, Theresa May und Jeremy Corbyn ergebnislos getrennt haben.
Wer sich hilflos und verlassen fühlt, wird leichter zornig
Dort, wo autoritäre Ordnungen in einer Krise zusammenbrechen, entlassen sie Massen von Menschen, die gelernt haben, in einer Diktatur zu überleben, und die von dieser Diktatur erzogen worden sind. Sie sind nicht beteiligt worden, und sie sind in Angst, Unwissenheit und Unmündigkeit gehalten worden. Den Zusammenbruch der gewohnten Herrschaft erleben sie häufig mit Panik. Wenn sie aus dem Reich der Unfreiheit in das Reich der Freiheit treten, erleben sie diese oft als Chaos. Denn sie brauchen in der neuen Umgebung Kompetenzen, die sie nicht haben. Deshalb gehört es zu unseren elementarsten Pflichten, sie auf den verantwortungsvollen Umgang mit der Freiheit vorzubereiten. Denn sie, die Freiheit, ist, wie Tocqueville sagt [3], das, was am schwierigsten erlernbar ist.
Grafik 1: Kurt Edler
Wenn die Diktaturerfahrung zum Bestandteil einer Biographie und Persönlichkeitsstruktur geworden ist, stellt die Auswanderung in eine demokratische Ordnung und eine offene Gesellschaft einen ungeheuren Anforderungswechsel dar. Die aufnehmende Gesellschaft muss sich dieser Kraftanstrengung bewusst werden und dem eingewanderten Menschen das selbstgesteuerte Umdenken und –lernen möglichst leicht machen. Das geht bei jungen Menschen besonders leicht; und hierin liegt die besondere Chance, aber auch Verantwortung der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen. Viele negative Emotionen, die sich gegen zu uns geflüchtete Menschen richten, beruhen auf der Unkenntnis dieses Sachverhalts. Integration, richtig verstanden, ist keine Betreuung von Menschen, die wir damit ja zum Objekt machen würden, sondern beruht ganz banal darauf, dass wir den zu uns Kommenden zeigen, wie man hierzulande zurechtkommt.
Das Risiko der Verführbarkeit
Jedoch gilt auch für demokratische Gesellschaften: Die Manipulierbarkeit von Menschen hängt von dem Grad ihrer Passivität ab. Wer nur als Zuschauer und Rezipient an der Demokratie teilnimmt, ist leichter beeinflussbar als derjenige, der selber agiert. Wer Verantwortung übernimmt, handelt mündig und ist nicht so leicht infantilisierbar. Er entwickelt auf der Basis eigener Erfahrungen seine eigenen Deutungsmuster und verfügt damit auch eher über eine Abwehrkraft gegen populistische Demagogie.
Grafik 2: Kurt Edler
Wir können also die Stabilität eines demokratischen Systems danach beurteilen, inwiefern es in der Lage ist, (a) Interesse an Partizipation zu wecken und (b) die Fähigkeit zu vermitteln, qualifiziert zu partizipieren. Das erstere ist eine Frage der Kommunikation, das letztere eine Frage der politischen Bildung. Aber das System muss sich auch selbstkritisch fragen, ob es Lebensverhältnisse toleriert oder gar begünstigt, die einen faktischen Ausschluss vom demokratischen Engagement bewirken. Wenn wir uns nur einmal anschauen, wie viele Menschen durch ihren Arbeitstag von einem Engagement ausgeschlossen sind, lässt sich an der Inklusivität unserer Demokratie durchaus zweifeln. Ungute ökonomische Imperative überwölben die Sphäre, die eigentlich geschützt werden müsste, um den Fortbestand einer politischen Kultur zu ermöglichen. Es ist kein Wunder, dass derzeit Frankreich in eine Krise seines politischen Systems gerät: ein breites Prekariat ist konfrontiert mit einem altmodischen Zentralstaat, dessen Schaufenster Paris leichte Zielscheibe militanter „Casseurs“ wird und dessen Institutionen sich in eine für sie völlig ungewohnte „große nationale Debatte“ gestürzt haben. Gleichzeitig führt die verschärfte Konkurrenz am Arbeitsplatz zu extrem schädlichen Auswüchsen – so zu dem in Frankreich sehr verbreiteten „Présentéisme“, d.h. dem gnadenlosen Umgang mit sich selbst, auch noch erkrankt am Arbeitsplatz zu erscheinen, und zugleich Druck auf Kolleginnen und Kollegen auszuüben, mit sich genauso umzugehen.[4]
Was ist Populismus, und wie funktioniert er?
Populismus ist eine (manipulative) Methode des Politikmachens. Er spekuliert auf die Unmündigkeit und Unwissenheit der Masse und auf ihr Bedürfnis, sich infantil einem Führer oder Heilsbringer zu unterwerfen. Rechts- und Linkspopulismus haben strukturelle Gemeinsamkeiten. Ihr Konzept ist immer Machtausübung kombiniert mit markigen Feinderklärungen und großen Versprechungen. Deshalb vertragen sie sich nicht mit der Vorstellung von einer aufgeklärten, partizipativen Demokratie auf der Basis von abwägenden Aushandlungsprozessen[5]. Ein nüchterner Realist kann also kein Populist sein, es sei denn, er verstellt sich als Komödiant. Zum Populisten gehört immer ein Theaterdonner oder zumindest ein Pathos.
So spricht der populistische Führer:
- Ich bin einer von euch.
- Ich weiß, wer eure Feinde sind.
- Die Politiker sind alle korrupt.
- In der Hauptstadt regiert eine kalte Elite.
- Die Parlamentarier haben sich dem Volk entfremdet.
- Sie wissen nicht, wie es euch geht.
- Sie verspielen eure Zukunft.
- Glaubt den Medien kein Wort, hört nur auf mich.
- Es muss endlich wieder die Wahrheit gesagt werden.
- Gegen alle Verbrecher müssen wir hart durchgreifen.
Populisten spekulieren immer auf die Emotionalität und Ungebildetheit ihrer Zielgruppe. Von Pegida bis Trump – die Rhetorik wird ausgerichtet auf populäre Denkmuster, die in der Alltagswelt vorkommen und von Massenmedien und im Entertainment verstärkt werden. Es geht um ein Selbstviktimisierungs-Narrativ, das denjenigen angeboten wird, die im Schatten einer globalisierten Ökonomie stehen und denen keine mediale Aufmerksamkeit als Betroffenengruppe zuteilwird – im (deutschen) Osten, im Rusty Belt, in der Banlieue, im Mezzogiorno.
Eine Ansprache solcher Milieus durch den populistischen Demagogen kann gerade deshalb auf fruchtbaren Boden fallen, weil die kulturelle Modernisierung dort (noch) nicht angekommen ist. Steve Bannon, der geschasste Rasputin des Trump White House, versucht derzeit in Europa mit einem eigenen Think Tank seine Zuhörer darauf einzuschwören, Prädikate wie „Populist“ oder „Rassist“ stolz als Auszeichnungen zu betrachten und anzunehmen.
Diese Inszenierungen sind grell. Aber auch bei ihnen werden nicht nur ideologische Weltbilder angeboten, sondern es wird an alltagsweltlichen Denkmustern angesetzt, die in viel mehr Köpfen herumspuken als es uns lieb wäre.
Im Folgenden sollen einige besonders typische Beispiele vorgeführt werden. Sie beruhen fast alle auf der Verwechslung von Politik und Privatsphäre.
Politisches Fehlverstehen [6]
Es gehört zum Alltag der Politikdarstellung, dass politische Differenzen in dramatische Szenen aufgelöst werden. Das Volk soll nicht verstehen, sondern erleben. Es geht um Seehofer contra Merkel, und der Streit geht um „die Ausländer“. Die CSU hat es allen Ernstes fertig gebracht, das Innenministerium mit einem erweiterten Namen als „Heimatministerium“ auszustatten, also mit einem hochemotionalen Schwabbelwort (das allerdings seine Tücken hat, weil natürlich in einer kritischen Demokratie dann auch irgendwann nach den Ergebnissen des Ressorts „Heimat“ gefragt wird.)
Prominent Handelnde werden als dramatische Akteure betrachtet, nicht aber in Abhängigkeit von ihren Rollen und Funktionen. Wenn der Finanzminister kein Geld rausrückt, ist er geizig. Wer keine Informationen liefert, hat etwas zu verheimlichen. Ein Grundmuster politischen Fehlverstehens ist die Annahme, in der Politik hätten die gleichen Maßstäbe zu gelten wie im Privatleben. Wer sich streitet, kann sich nicht gut verstehen. Wenn ich während meiner Abgeordnetenjahre mal erzählte, dass wir uns im Plenarsaal fetzten und hinterher zusammen ein Bier tranken, stieß das bei manchen Gesprächspartnern auf Unverständnis oder sogar Misstrauen. Der Grund: Das private Ideal der Harmonie wurde von ihnen einfach auf die öffentliche Sphäre übertragen.
Solches Denken kann demokratiegefährdende Ausmaße annehmen, so z.B. wenn Boulevardjournalisten der Öffentlichkeit immer wieder einhämmern, dass eine Partei geeint aufzutreten habe, und Flügelstreitigkeiten sofort sarkastisch kommentieren. Dieses falsche Verständnis führt auch in demokratischen Parteien zu autoritäreren Strukturen und im schlimmsten Fall zur Marginalisierung einer innerparteilichen Opposition. Die Kandidatur ohne Gegenkandidatur erscheint dann nicht als anrüchig, sondern als „normal“. Mit anderen Worten: Es soll gut sein, dass der Parteitag keine Wahl hat.
Ähnlich gefährlich ist die Einstellung, in Koalitionen verrieten Parteien durch Kompromisse mit anderen ihr eigenes Programm. So zu denken, ist zutiefst illiberal und fundamentalistisch. Die Radikalisierung im Weißen Haus und im US-Kongress zeigt, wie sehr eine Demokratie Schaden zu nehmen droht, wenn der Anspruch, sich überparteilich zu verständigen, verworfen wird. In Deutschland schleppen die Grünen dieses Vorurteil ihrer eigenen (moralisierenden) gesellschaftlichen Basis seit 40 Jahren mit sich herum. Dabei ist leicht einzusehen, dass das Vorhaben, 100 % des eigenen Programms durchzusetzen, ja eigentlich den Traum von einer Alleinherrschaft in sich enthält. Wenn dem Gegner nur noch null Prozent bleiben, ist er politisch vernichtet. Das ist gewiss kein demokratisches Ziel. Die Zivilisiertheit eines demokratischen Spektrums beweist sich ja gerade darin, dass im Prinzip alle koalitionsfähig sein müssen. Deshalb ist Kompromissfähigkeit natürlich keine Sünde, sondern eine Tugend.
Eine unbemerkte Verfassungsfeindlichkeit
Populistisch ausschlachtbar sind auch jene Missverständnisse, die sich nicht unmittelbar auf die Bühne der Politik beziehen. Ganz häufig hört man den Einwand, es stimme doch gar nicht, dass die Menschenwürde unantastbar sei; sie werde doch jeden Tag angetastet. Normative Texte (z.B. Grundrechtsartikel) werden also als Tatsachenbehauptungen oder Versprechen missverstanden. Aus politischer Ungebildetheit kann so ein Ressentiment gegen die Verfassung entstehen – ein Leckerbissen für alle Extremisten, die das Volk gegen den demokratischen Verfassungsstaat aufbringen wollen.
Auch falsche Gleichheitsvorstellungen können sich zu einem politisch unglücklichen Bewusstsein verdichten, wenn nämlich Gleichheit als Gleichartigkeit, nicht als Gleichwertigkeit aufgefasst wird. Eingewandt wird dann etwas treuherzig, die Menschen seien ja nun mal nicht gleich. Da der Art. 3 GG wie kein anderer durch die Feinde der Freiheit unter Beschuss genommen wird, ist es sehr wichtig, den Sinn der Gleichheit vor dem Gesetz zu erläutern. Überall lauern für uns also reizvolle Bildungsgelegenheiten, aber auch präventive Aufklärungsbedarfe. In Zeiten, wo ganze Völker selbst innerhalb der EU der Verdummung durch autokratische Führer erliegen, dämmert aufgeklärten Freunden der Demokratie, wie wichtig das Gespräch über das Tafelsilber der Republik ist. Wie sollen sich elementare Rechtsgüter schützen lassen, wenn ein Rechtsverständnis nicht vorhanden ist?
Ich war nach meiner Bürgerschaftszeit für ein paar Jahre Schöffe bei der Hamburger Strafjustiz – eine Erfahrung, die ich übrigens nur empfehlen kann. Im Gerichtssaal kommen die ulkigsten Vorstellungen von Recht zum Vorschein. Zuweilen trifft man auch Menschen, die einen Prozess verloren haben. Sie regen sich auf, weil sie das Urteil als ungerecht empfinden. Ein Gerichtsurteil habe jedoch gerecht zu sein. Recht und Gerechtigkeit sind für sie dasselbe. Die Bindung des Staates an Recht und Gesetz haben sie umso weniger im Auge, je empörter sie sind.
Auch an solchen gedanklichen Ösen kann sich der Populist einhängen. Er kann demjenigen, der verloren hat, einflüstern, dass man an dem Fall erkennen könne, wie wenig dies ein Rechtsstaat sei, wie verkommen die Justiz usw.
Doch letztlich ist alle argumentative Abwehr populistischer Überwältigungsversuche zum Scheitern verurteilt, wenn eines fehlt:
Wir müssen erklären, wie aufgeklärtes politisches Handeln funktioniert
Politisches Handeln beginnt manchmal mit dem Kennenlernen einer Partizipationsstruktur; aber der Impetus dazu kommt doch häufiger vom Ärger über ein Problem. Die Ideologie des „Positive Thinking“ taugt hier gar nicht. Das politische Leben ist keine Shopping Mall. Im Gegenteil, es bedarf eines Keims für das Entstehen kritischen Denkens, zum Beispiel einer Betroffenheit oder Sorge. Die sechzehnjährige Schwedin Greta Thunberg hat es der Welt erzählt. Sie hat jeden Freitag für die Klimapolitik demonstriert und dafür in der Schule gefehlt. Damit ist sie international bekannt geworden. Und dann hat sie internationalen Konferenzen wie in Davos vor Augen geführt, in welche Situation sie als Mutter geraten wird, wenn ihre Kinder sie in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts fragen werden, warum das alles, was sie dann mit dem Globus erleben, nicht abgewendet wurde, obwohl es als Gefahr längst bekannt war.
Es geht also um die Gründe, die einen persönlich dazu bringen, in die Politik einzusteigen und zu einem Teil der Akteursdemokratie zu werden. Das ist bei jedem Menschen anders; es gibt kein Schema. Aber es gibt Elemente des politischen Handelns, die immer wieder auftauchen.
Wenn ich das Problem X erkannt habe, frage ich andere, ob sie es auch so sehen. Daraus kann eine gemeinsame Willensbildung und die Suche nach einer Lösungsperspektive entstehen. Wichtig ist hier nicht nur Moralität, sondern ein rationales Kalkül. Moralität ohne politische Vernunft ist sogar gefährlich. Demokratisches Engagement inkludiert immer seine Folgenabschätzung und verbietet sich Wege, die zwar gangbar und effektiv wären, aber mit den Prinzipien der Humanität und des Rechtsstaats kollidieren.
Es geht also nicht nur darum, Politik zu erklären, sondern um das Politikmachen selbst. Dazu gehört es auch zu erzählen, wie man politische Erfolge erzielt und was überhaupt ein politischer Erfolg ist. Das ist in Zeiten, in denen sich anti-humane Ideologien und Rechtfertigungsstrategien für Militanz verbreiten, umso wichtiger. Expressive Gewalt trägt oft Züge politischer Depressivität. Dieser geht nicht selten ein Scheitern bei dem Versuch voraus, sich im institutionellen Raum wirksam zu engagieren. Besonders bei jungen Menschen kommt leicht Frust auf, wenn naive Annahmen über unmittelbare Wirkungsmöglichkeiten enttäuscht werden.
Grafik 3: Kurt Edler
Gewalt hat demgegenüber die fatale Faszination, unmittelbare Wirkung zu suggerieren. Eine physische Einwirkung auf einen Gegenstand oder gar eine Person ist sofort sinnlich wahrnehmbar, und sie kann im Zeitalter des digitalen Narzissmus per „Selfie“ festgehalten werden. Nicht zuletzt deshalb sprach eine der bekanntesten Vertreterinnen der Interventionistischen Linken nach den G-20-Krawallen an der Hamburger Sternschanze von „Fotopolitik“.
In Demokratiepädagogik, Erwachsenenbildung und Öffentlichkeitsarbeit haben wir also zumindest drei wichtige Themen:
Wir müssen darüber reden, wie eine Diktatur funktioniert und wie eine Demokratie schleichend zu einer Diktatur verkommen kann. Wir müssen außerdem darüber reden, mit welchen Verlockungen und Manipulationsmethoden Populisten arbeiten, um Menschen zu blenden und Gefolgschaften an sich zu binden. Und wir müssen darüber reden, wie man eine aufgeklärte demokratische Politik macht, wirksam und verantwortbar, also mit den eigenen moralischen Prinzipien übereinstimmend, aber nicht einfach aus dem Bauch heraus.
Nur wenn wir zumindest dies tun, können wir den Populisten aller Schattierungen das Wasser abgraben.
Quellen:
[1] Martha C. Nussbaum: Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist. Berlin (Suhrkamp) 2016.
[2] https://www.youtube.com/watch?v=3JHMOtbQxx8
[3] Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. Teil II. 6. Kapitel.
[4] TV France 2, Journal de 20 heures, 08.02.2019
[5] Ein Musterbeispiel für die verschwimmende Grenze zwischen Links- und Rechtspopulismus ist der ehemalige Sozialist Jean-Luc Mélenchon mit seiner Organisation „La France Insoumise“. Er vermengt in seiner zündenden und zugleich zündelnden Rhetorik die Polemik gegen die Regierung mit anarchistischen Aufstandsphantasien, Résistance-Romantik mit Germanophobie, verschont die Rechte (Rassemblement National) mit Kritik und agiert als Person auch innerverbandlich autokratisch. Bei einer Durchsuchung seines Parteibüros wurde er gegen Polizisten und Staatsanwälte handgreiflich mit der Begründung, er sei die Republik (Tageblatt Luxemburg 30.08.2018 online).
[6] In Anlehnung an Sybille Reinhardt: Politikdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. Berlin (Cornelsen) 2005.
Autor:
Kurt Edler, Mai 2019
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