Gespräche zu Demokratie, Bildung und Teilhabe in der Migrationsgesellschaft mit
Anna Friedrich & Atahan Demirel
Migrationssensible und rassismuskritische Kinder- und Jugendhilfe
Anna Friedrich studierte Europäische Ethnologie und Westslawistik an der Humboldt-Universität Berlin. Beruflich, akademisch und aktivistisch beschäftigt sie sich möglichen Strategien zur Erreichung von gesellschaftlicher Teilhabe für alle Menschen. Die inhaltlichen Schwerpunkte liegen in den Bereichen Rassismus gegen Roma* und Sinti*, Antisemitismus, Queerfeminismus und der diversitätsorientierten Öffnung der Jugendhilfe. Von 2015-2019 leitete sie das Projekt „Dikhen amen! Seht uns!“ bei Amaro Drom e.V. Seit 2021 ist sie Referentin im „Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft“ bei der TGD und leitet dort auch das Förderprogramm LEVEL up!.
Atahan Demirel arbeitet als Referent in der politischen Kommunikation beim Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft. Zuvor hat er in Wien und Oxford studiert und beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit Antidiskriminierung und der Stärkung von Vielfalt. Insbesondere interessiert ihn die Förderung von migrantischen und diasporischen Jugendlichen. Während der Oberstufe unterstützte er als Mentor beim Deutsch-Türkischen Forum in Stuttgart ein Kind mit Migrationsgeschichte bei seiner schulischen Ausbildung und entwickelte dabei ein breiteres Verständnis für die praxisorientierte Jugendarbeit.
Sie beschäftigen sich mit migrationssensibler und rassismuskritischer Kinder- und Jugendhilfe. Könnten Sie bitte einen kurzen Einblick in dieses Thema geben? Wie sieht die aktuelle Kinder- und Jugendhilfe aus, und warum ist eine migrationssensible sowie rassismuskritische Perspektive hier besonders wichtig?
Die aktive Gestaltung der Migrationsgesellschaft ist eine zentrale Aufgabe, um den sozialen Zusammenhalt zu fördern, Teilhabegerechtigkeit umzusetzen und Deutschland zukunftsfähig zu machen. In vielen Großstädten haben über 50 % der Kinder und Jugendlichen Migrationsgeschichte.1 Dabei sind fast 80 % dieser jungen Menschen in Deutschland geboren, 70 % von ihnen haben einen deutschen Pass.2 Es handelt sich bei ihnen also nicht um Neuzugewanderte mit sogenanntem „Integrationsbedarf“. Zudem gibt es zahlreiche Kinder und Jugendliche, die zwar formal keine Migrationsgeschichte haben, aber dennoch Rassismus bzw. Antisemitismus erfahren. Dies betrifft beispielsweise Sinti* und Rom*, Jüdinnen*Juden oder Schwarze Deutsche, deren Familien seit etlichen Generationen in Deutschland leben. Obwohl sie einen wesentlichen Anteil an der Bevölkerung in Deutschland ausmachen, sehen sich junge Menschen mit M_R (Migrationsgeschichte und/oder Rassismuserfahrung) vielfältigen Hürden ausgesetzt3 und haben ein besonders hohes Risiko, Diskriminierung zu erfahren. Angesichts der Tatsache sind die Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe wichtige Säulen zur Gestaltung unserer Migrationsgesellschaft.
Der gesetzliche Auftrag der Jugendhilfe ist ein klar formulierter und durchaus hoher Anspruch: „[J]unge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung [zu] fördern und dazu bei[zu]tragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen“ ist eine zentrale Aufgabe der Jugendhilfe (§ 1 Absatz 3 Satz 1 SGB VIII). Ebenso muss die Jugendhilfe dafür Sorge tragen, „positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familie sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“ (§ 1 Absatz 3 Satz 4 SGB VIII).
Das heißt, dass die Jugendhilfe allen Kindern und Jugendlichen in Deutschland sowie ihren Familien und Bezugspersonen zu Gute kommen soll. Hierzu gehört auch, der Diversität junger Menschen gerecht zu werden und das Selbstbestimmungsrecht hinsichtlich religiöser Erziehung sowie besonderer sozialer und kultureller Bedürfnisse bei der Ausgestaltung der Angebote zu beachten (§ 9 Absatz 1 und 2 SGB VIII). Der Auftrag umfasst damit grundsätzlich längst Kinder- und Jugendliche mit Migrationsgeschichte, Rassismus- und/oder Antisemitismuserfahrung – es muss lediglich hinterfragt werden, wo er trotzdem für bestimmte Zielgruppen unerfüllt oder untererfüllt bleibt und warum das so ist.
Als Organisation haben Sie bereits Expert*innengespräche zur Kinder- und Jugendhilfe in der Migrationsgesellschaft durchgeführt. Welches Bild hat sich Ihnen dabei vermittelt?
Wie einige unserer Mitgliedsverbände sind auch wir als Träger der Jugendhilfe anerkannt und wissen daher aus eigener Erfahrung, dass sich die 26,7 % Menschen mit Migrationsgeschichte4 in der Kinder- und Jugendhilfe aktuell kaum abbilden; weder personell in Gremien und Entscheidungspositionen, noch inhaltlich. Man könnte sagen: das migrantische Auge sitzt noch nicht mit am Tisch. Unserem Eindruck nach hat dies zur Folge, dass Defizite der Kinder- und Jugendhilfe in Bezug auf die Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrages nicht angesprochen und nicht angegangen werden.
Um diesen Eindruck zu prüfen, haben wir 2021 intensive Recherchen durchgeführt. Im Zentrum unserer Nachforschungen standen vor allem die Impulse jener Menschen, die in meist in den öffentlichen Strukturen fehlen – nämlich die Ansichten von Menschen mit Migrationsgeschichte und/oder Rassismuserfahrung bzw. ihren Organisationen. Dies halten wir für wichtig, da es noch Jahre dauern kann, bis der Anteil dieser Menschen in Gremien und Entscheidungspositionen so hoch ist, dass die Scheu vor einer ehrlichen Auseinandersetzung überwunden werden kann. Auf diese Weise möchten wir Denkanstöße geben, wie der Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe in der Migrationsgesellschaft neu begriffen und mit Leben gefüllt werden könnte.
Unsere Recherchen haben ergeben, dass es in der öffentlichen Jugendhilfe eine hohe pädagogische Kompetenz bei den Fachkräften gibt. Die Mitarbeitenden kennen ihre Aufgaben sehr gut und wollen dem Auftrag, alle Kinder und Jugendlichen bestmöglich zu begleiten und zu unterstützen, entsprechen.
Wenn es also zu Benachteiligungen – auch durch Nichtberücksichtigung – kommt, dann nicht durch beabsichtigtes Verhalten, sondern eher durch mangelnde Sensibilisierung oder die Wirkung von unhinterfragten rassistischen Wissensbeständen. Die Rückmeldungen aus unseren Gesprächen an die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe zeigen deutlich, dass die Rechte, Perspektiven und Anliegen von jungen Menschen mit M_R zu wenig Beachtung erhalten. Angesichts der zahlenmäßigen Realitäten (39 % der Kinder und Jugendlichen mit M_R!) müssen wir von einem deutlichen Defizit und dringenden Entwicklungsbedarf sprechen. Gründe hierfür sind vor allem:
- Die massive Überlastung der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe
- Fehlende Expertise zu Diversität und Repräsentanzmangel von Menschen mit M_R
- Mangelnde Zusammenarbeit mit Migrant*innenorganisationen und neuen deutschen Organisationen5 (kurz MO und NDO)
- Kaum Beteiligung von Kindern und Jugendlichen
Welche Empfehlungen halten Sie für notwendig, um eine migrationssensible und rassismuskritische Kinder- und Jugendhilfe zu etablieren?
Die Lebenslagen und Belange von jungen Menschen mit M_R müssen mehr Beachtung in der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe erfahren. Angesichts des gesetzlichen Auftrags der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Bevölkerungszusammensetzung in Deutschland ist dies eine dringende Gegenwarts- und Zukunftsaufgabe. Wir empfehlen folgende Maßnahmen für die Entwicklung einer migrationssensiblen und rassismuskritischen öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe:
- Mitarbeitende und Leitungspersonal qualifizieren
- Rassismussensible Organisationsentwicklung anstoßen
- Mit MO und NDO zusammen arbeiten und junge Menschen beteiligen
- Themen in den Jugendhilfeausschuss bringen
- Klare Haltung gegen rechtspopulistische Akteur*innen zeigen
Die hier dargelegten Empfehlungen mögen etwas abschreckend wirken, da diese Prozesse zunächst mehr Ressourcen beanspruchen und Mehrarbeit bedeuten. Auf lange Sicht unterstützen sie aber die Professionalisierung der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe und sorgen für eine deutliche Arbeitsentlastung und Ressourcenschonung.