Gespräche zu Demokratie, Bildung und Teilhabe in der Migrationsgesellschaft mit
Aline Zubi & Sara Samir
Aline Zubi: (sie/ihr) ist kopftuchtragende Lehrerin für Geschichte, Ethik und Philosophie an einem Gymnasium in Hessen. Sie ist darüber hinaus zertifizierte Antidiskriminierungstrainerin mit einem besonderen Fokus auf (antimuslimischen) Rassismus und die Geschichte des Wissens in der Migrationsgesellschaft Deutschland. Ihr wissenschaftliches Interesse erstreckt sich auf intersektionale Diskriminierungserfahrungen und die Rolle von Bildung in der Migrationsgesellschaft. Zudem engagiert sie sich besonders für Empowerment in der Kinder- und Jugendarbeit im Vereinskontext und setzt sich dafür ein, für eine machtkritische Perspektive in der Bildungslandschaft zu sensibilisieren.
Sara Samir: (sie/ihr) ist gebürtige Darmstädterin mit irakisch-iranischer Migrationsgeschichte und Lehrerin für Deutsch und Philosophie/Ethik an einer Gesamtschule. Sie ist in der außerschulischen Bildungsarbeit als Antidiskriminierungstrainerin mit einem besonderen Fokus auf die Diskriminierungsdimension Rassismus tätig. In ihrer Arbeit widmet sie sich vor allem der Frage, wie Bildungsräume chancengerechter und empathischer gestaltet werden können. Ihr wissenschaftliches Interesse gilt intersektionalen Diskriminierungserfahrungen, der Rolle von Bildung in der Migrationsgesellschaft und der Bedeutung von Postkolonialismus und Machtkritik.
Bitte stellen Sie uns doch gern zuerst Ihre Arbeit im Hinblick auf das Thema "Bildung und Migrationsgesellschaft" dar.
In unserer Arbeit beschäftigen wir uns mit der Reproduktion kolonialer Bilder und Verhältnisse an weiterführenden Schulen im Kontext der Migrationsgesellschaft. Ein zentrales Anliegen ist uns hierbei eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, wie koloniale Narrative und rassistische Strukturen im Bildungssystem verankert sind und wie sie die Erfahrungen von Schüler*innen prägen.
In diesem Zusammenhang untersuchen wir, wie koloniale Narrative im Geschichts- und Deutschunterricht vermittelt werden, u.a. durch Schulmedien, die beispielsweise die europäische koloniale Vergangenheit beschönigen/auf eine gewisse Weise darstellen. Dabei spielt die Analyse von Bildungsstandards und Lehrplänen eine entscheidende Rolle, da diese die Themen Kolonialismus und Rassismus häufig nur am Rande oder gar nicht behandeln. Dies führt zu einem unzureichenden Verständnis historischer und gegenwärtiger Machtverhältnisse.
Ein weiterer Aspekt, den wir beleuchten, ist der Begriff der interkulturellen Kompetenz. Oft wird davon ausgegangen, dass es „kulturell unterschiedliche Identitäten“ gäbe, ohne die zugrundeliegenden Machtstrukturen zu berücksichtigen, die diese Unterschiede konstruieren und hierarchisieren. Zudem thematisieren wir die Erfahrungen von Schüler*innen mit Rassismus und Diskriminierung im schulischen Kontext und wie diese Erfahrungen ihre Bildungschancen und ihr Selbstbild beeinflussen.
Wir möchten auf die Bedeutung bestehender kolonialer Bilder und Narrative für die Migrationsgesellschaft Deutschland hinweisen. Durch bestimmte festgelegte Bildungsinhalte wird nicht nur Wissen vermittelt, sondern es werden auch soziale Hierarchien reproduziert und Ungleichheiten verstärkt.
Sie beschäftigen sich mit dem Thema „Reproduktion kolonialer Bilder und Verhältnisse an Schulen“. Könnten Sie genauer erläutern, welche Aspekte dieses Themas für Sie besonders relevant sind?
In unserer Auseinandersetzung mit dem Thema „Reproduktion kolonialer Bilder und Verhältnisse an Schulen“ identifizieren wir mehrere besonders relevante Aspekte, die die schulische Bildung und die Erfahrungen von Schüler*innen mit Migrationshintergrund betreffen. Wir beobachten, dass koloniale Narrative häufig in Geschichtsbüchern oder auch durch kanonische Lektüre im Deutschunterricht reproduziert werden, wobei die koloniale Vergangenheit oft beschönigt, nicht oder nur unzureichend thematisiert wird. Dies führt dazu, dass Schüler*innen, insbesondere BIPoC, mit einer verzerrten Darstellung ihrer eigenen Geschichte und Identität konfrontiert werden. Zudem tragen diese Narrative dazu bei, dass stereotype Vorstellungen verfestigt und verstärkt werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Rolle der Lehrkräfte und ihre eigene Positionierung im Klassenzimmer. Häufig sind Lehrkräfte nicht ausreichend auf die Herausforderungen vorbereitet, die mit der Thematisierung von Rassismus und Kolonialismus verbunden sind. Dies kann dazu führen, dass sie unreflektiert koloniale Bilder reproduzieren oder rassistische Inhalte nicht angemessen thematisieren. Eine kritische Reflexion der eigenen Positionierung und der damit verbundenen Privilegien ist daher unerlässlich. Eine Voraussetzung hierfür ist, dass in der Lehrkräfteausbildung rassismuskritische Bildung obligatorisch behandelt wird und diese kein Randthema bleibt.
Darüber hinaus ist die Frage der Interkulturalität von Bedeutung. Die Vorstellung, dass es „kulturell unterschiedlich geprägte Identitäten“ gibt, ohne die zugrunde liegenden Machtverhältnisse zu berücksichtigen, kann zu einer weiteren Hierarchisierung und Diskriminierung führen, indem bestimmte Kulturen als defizitär oder rückständig dargestellt werden.
Schließlich betrachten wir die Auswirkungen dieser Reproduktion kolonialer Bilder auf die Identitätsentwicklung und das Selbstbild von Schüler*innen.
Welche Auswirklungen hat dieses Thema auf Schüler*innen, vor allem auf BIPoC-Schüler*innen?
Das Thema der Reproduktion kolonialer Bilder und Verhältnisse an Schulen hat weitreichende Auswirkungen, insbesondere auf BIPoC-Schüler*innen. Ein zentraler Aspekt ist die Identitätsentwicklung: Verzerrte und stereotype Darstellungen ihrer Kulturen und Geschichten beeinträchtigen häufig das Zugehörigkeitsgefühl und Selbstwertgefühl der Betroffenen. Zusätzlich erleben viele BIPoC-Schüler*innen Diskriminierung im Schulalltag, die durch stereotype Zuschreibungen und Vorurteile von Lehrkräften und Mitschüler*innen geprägt ist. Solche Erfahrungen können das Lernumfeld negativ beeinflussen und zu Isolation führen.
Die Auswirkungen auf die Bildungsbiografien sind ebenfalls erheblich. Ungerechte Leistungsbewertungen und die Konfrontation mit diskriminierenden Inhalten können die Motivation und das Engagement der Schüler*innen mindern. Diese Belastungen werden durch die Angst vor negativen Reaktionen oder Missverständnissen verstärkt. Darüber hinaus erhöhen Rassismus und Diskriminierung das Risiko psychischer Gesundheitsprobleme wie Depressionen und Angststörungen, wie Studien belegen.
Langfristig führen diese Erfahrungen oft zu einem erschwerten Zugang zu politischen und wirtschaftlichen Ressourcen, was die Bildungs- und Berufschancen der Betroffenen einschränkt und bestehende Ungleichheiten vertieft. Insgesamt zeigt sich, dass die Reproduktion kolonialer Bilder und Verhältnisse an Schulen tiefgreifende, negative Auswirkungen hat. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Themen ist daher unerlässlich, um ein gerechteres und inklusiveres Bildungssystem zu schaffen.
Welche Bedeutung hat die kritische Auseinandersetzung mit kolonialen Bildern und Strukturen in einer Migrationsgesellschaft? Und welche Lösungsansätze sehen Sie, um diese Machtverhältnisse im Bildungswesen kritisch zu hinterfragen und abzubauen?
Die kritische Auseinandersetzung mit kolonialen Bildern und Strukturen in einer Migrationsgesellschaft ist zentral, um bestehende Machtverhältnisse zu erkennen und hinterfragen. In einer von Diversität geprägten Gesellschaft ist es entscheidend, alle Stimmen zu hören und achten. Eine Reflexion kolonialer Narrative hilft, historische und gegenwärtige Ungleichheiten zu verstehen, die durch die Reproduktion kolonialer Bilder fortgeschrieben werden. Dies schärft das Bewusstsein von Pädagog*innen für Rassismus und Diskriminierung und fördert eine inklusive Bildungslandschaft, in der sich alle Schüler*innen wertgeschätzt und respektiert fühlen.
Um bestehende Machtverhältnisse im Bildungssystem kritisch zu hinterfragen und abzubauen, sehen wir mehrere Ansatzpunkte. Zum einen bedarf es einer umfassenden Lehrer*innenfortbildung, die die Themen Rassismus und Kolonialismus in den Mittelpunkt stellt und sich kritisch mit Ansätzen interkultureller Kompetenz auseinandersetzt. Lehrkräfte sollten in die Lage versetzt werden, koloniale Bilder und Narrative in Unterrichtsmaterialien zu erkennen und die Problematik dahinter zu reflektieren.
Zweitens müssen Lehrpläne und Bildungsstandards überarbeitet werden, um sicherzustellen, dass sie vielfältige und differenzierte Perspektiven auf Geschichte und Kultur bieten. Es ist wichtig, dass die Beiträge und Erfahrungen von BIPoC in den Unterricht integriert werden, um ein umfassenderes Verständnis der gesellschaftlichen Realität zu fördern.
Darüber hinaus sollten Schulen Räume für offene Dialoge schaffen, in denen die BIPoC-Schüler*innen ihre Erfahrungen und Perspektiven teilen können. Schließlich ist es wichtig, dass Schulen und Bildungseinrichtungen aktiv gegen Diskriminierung und Rassismus vorgehen. Dies kann durch die Implementierung von Antidiskriminierungsrichtlinien, die Förderung von Diversität im Lehrkörper und die Schaffung eines respektvollen und inklusiven Schulklimas geschehen.
Insgesamt ist die kritische Auseinandersetzung mit kolonialen Bildern und Strukturen unerlässlich, um eine gerechte und inklusive Bildung zu gewährleisten, die die Vielfalt unserer Gesellschaft widerspiegelt und achtet.