Gespräche zu Demokratie, Bildung und Teilhabe in der Migrationsgesellschaft mit
Demokrat Ramadani & Diana Finkele
Radikale Demokratie – Radikale Pädagogik
Diana Finkele leitet seit 2004 das Grafschafter Museum im Moerser Schloss. Sie konzipierte und organisierte die Mittelalterliche Lernstadt im Grafschafter Musenhof (Eröffnung 2010), sowie die neuen Dauerausstellungen im Moerser Schloss (Eröffnung 2013) und im Haus der Demokratiegeschichte im Alten Landratsamt (Eröffnung 2022). Seit 2013 ist sie zudem Erste Betriebsleiterin der Eigenbetriebsähnlichen Einrichtung Bildung der Stadt Moers, in deren Rahmen 2022 die Fachstelle für Demokratie neu aufgebaut wurde.
Demokrat Ramadani hat Politikwissenschaften, Jura und Demokratiepädagogik studiert. Er ist ausgebildeter Theaterpädagoge und Trainer in verschiedenen Demokratie- und Antidiskriminierungsprogrammen („Betzavta – Mehr als eine Demokratie“, „Social Justice & Diversity“, „Diversitätspsychologie“) und übt Lehraufträge u.a. für Demokratietheorie und Demokratiepädagogik an der Uni Duisburg-Essen, FU Berlin, Uni Bielefeld aus. Zuletzt leitete er die Fachstelle für Demokratie der Stadt Moers.
Welches Verständnis von Migrationsgesellschaft legen Sie in Ihrer Arbeit zugrunde?
Das Konzept „Migrationsgesellschaft“ leistet dreierlei: Vor dem Hintergrund des Diskurses um die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, ist der Begriff erstens eine Anerkennung der Zugehörigkeit von migrierten Menschen und ihrer Nachfahren zu unserer Gesellschaft. Zweitens ermöglicht der Begriff einen Austausch über Migration, der nicht von Abwehrreflexen geprägt ist, sondern von Offenheit für die Gründe, warum Menschen nach Deutschland migrieren, für die Umstände, unter denen Migration nach Deutschland stattfindet und welche gesellschaftlichen Verhältnisse die Teilhabe der Zugewanderten erleichtern oder erschweren. Drittens stellt das Konzept die Grundlage dafür her, Migratismus als eine Form struktureller Diskriminierung von Menschen aufgrund einer tatsächlichen oder zugeschriebenen Migrationsgeschichte zu betrachten. Jene haben schlechteren Zugang zu medizinischen Leistungen, zum Arbeits- und Wohnungsmarkt, Nachteile durch die Nichtanerkennung von Abschlüssen und Qualifikationen, schlechtere ökonomische Ausgangssituationen und Nachteile im Bildungssystem. Der Fachtag und der Sammelband haben wichtige Perspektiven auf Demokratiebildung in der Migrationsgesellschaft zusammengetragen. Für unseren Beitrag sahen wir es als geboten an, einen größeren Rahmen zu spannen. Das Ziel unseres Textes ist es, eine ganzheitliche Perspektive auf das Verhältnis zwischen Demokratiepädagogik, Diversitätsstärkung und Diskriminierungsabbau zu skizzieren. Er versteht sich als Versuch, einen Horizont aufzumachen, in dem Migrationsgesellschaft eine Facette der „Vielfaltgesellschaft“ ist. Letzterer steht dafür, dass Menschen unterschiedlich sind, und dass die Unterschiede, die wir bestimmen, weder zufällig noch naturgegeben sind. Es sind historisch gewachsene Unterscheidungspraktiken, die mit tradierten Norm- und Ordnungsvorstellungen zusammenhängen. Diese haben immer privilegierende und diskriminierende Effekte. Unsere Gesellschaft ist also per se vielfältig und zugleich durchsetzt von struktureller Diskriminierung. Diesen Zusammenhang gilt es ganzheitlich zu durchleuchten.
Welche Rolle spielen die Ansätze „Radikale Demokratie“ und „Radikale Pädagogik“ für die Demokratiebildung in der Migrationsgesellschaft?
Die Perspektiven „Radikaler Demokratie“ bauen u.a. auf Arbeiten von Claude Lefort, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe sowie Jacques Rancière auf. Sie gehen davon aus, dass die demokratische Gesellschaft immer Ergebnis politischer Auseinandersetzungen ist und es darauf ankommt, die Gewordenheit kritisch zu reflektieren und das Werden emphatisch zu verteidigen. Zu den wesentlichen Grundgedanken der radikalen Demokratietheorien gehört die Unterscheidung zwischen Demokratie als Ordnung mit Tendenz zur Schließung und Demokratie als Bewegung mit dem Drang zur Öffnung. Im Laufe der Demokratiegeschichte wurden immer wieder Personengruppen von Mitbestimmungsrechten ausgeschlossen (Sklaven*innen, Arbeiter*innen, Menschen jüdischen Glaubens, People of Colour, Soldat*innen, Inhaftierte, Menschen mit körperlichen oder seelischen Beeinträchtigungen, Frauen, Kinder und Jugendliche). Auch heutzutage dürfen wir nicht vorschnell davon ausgehen, dass wir bereits in einer (guten) Demokratie leben. Vielmehr brauchen wir den grundsätzlichen Streit darüber, dass eben noch nicht alle partizipieren können, dass noch nicht die Grundbedürfnisse aller berücksichtigt werden, dass wir bessere Modi für Demokratie finden können und dass bessere Entscheidungen dabei herauskommen sollen. Pädagogik ist im Sinne der Demokratie radikal, wenn sie in ihrer Arbeit die Frage nach der eigenen Involviertheit in die Organisation der gesellschaftlichen Ordnung stellt. Radikaldemokratische Pädagogik will einerseits den Zusammenhang zwischen den eigenen Zielen und Methoden mit den jeweils vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen und deren exkludierenden Tendenzen ergründen. Sie will andererseits Beiträge leisten zum Abbau von Exklusion und zum Ausbau von Inklusion. Sie will sozialem Leid, Ungerechtigkeit und Ungleichheit gegenüber nicht indifferent sein, sondern ökonomische Entwicklungen, gesellschaftliche Transformationen und die Mutation der Politik problematisieren, um so wenig wie möglich Komplizin der ausschließenden Effekte in der jeweils vorherrschenden Ordnung zu sein.
Welche demokratiepädagogische Strategie brauchen Kommunen und wie sieht die Umsetzung in der Stadt Moers konkret aus?
Moers ist mit über 100.000 Menschen die größte Stadt des Kreises Wesel in Nordrhein-Westfalen und liegt am Rande des Ruhrgebietes angrenzend zum Rheinland. Sie hat folgende demokratiepädagogische Strategie: Es gilt die (1) historischen Wege und Abwege der regionalen Demokratie zu thematisieren, (2) einen tiefen Einblick zu schaffen in die gegenwärtigen extremistischen Phänomene, um Aktivitäten dagegen zu entwickeln und (3) einen Ausblick für die Zukunft zu entwerfen, in der Zusammenhalt in Vielfalt und die Mitbestimmung realisiert ist. Seit 2022 gibt es in der Stadt Moers die Dauerausstellung „Haus der Demokratiegeschichte“ des Grafschafter Museums. Sie ist das Ergebnis eines partizipativen Projektes, bei dem Jugendliche und Erwachsene aus Moers Biografien von widerständigen Demokrat*innen, nationalistischen Demokratiezerstörer*innen und Opfern des NS-Regimes erarbeitet haben. Die Ausstellung ist innovativ, indem Besucher*innen in der Ausstellung aus aktuell 40 echten Biografien auswählen („Ausweiskarten“) und die Geschichte entlang dieser Biografien erfahren können. Die Anzahl der Biografien wächst kontinuierlich – in Zusammenarbeit mit weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren. Wie unsere Demokratie ist diese Ausstellung „nie fertig“. Erweitert wird die Ausstellung durch Workshop-Elemente, die dazu dienen, diese vergangenen Ereignisse als strukturelle Diskriminierungen herauszuarbeiten, Verbindungen zur Gegenwart herzustellen, aktuelle Phänomene und Herausforderungen für Demokratie in den Blick zu nehmen, Handlungsoptionen zu erarbeiten und eine Vision für die Zukunft zu entwickeln. Durch die Kooperation mit der Fachstelle für Demokratie der Stadt Moers können Menschen in Moers und in der Region ausgehend von solchen Impulsen eigene Ideen zur Demokratisierung der Gegenwart entwickeln. Die Fachstelle für Demokratie stellt im Rahmen ihrer Umsetzung der beiden Förderprogramme „Demokratie leben!“ und „NRWeltoffen“ thematische, finanzielle, netzwerkliche und organisatorische Ressourcen zur Verfügung. Erfahrungen aus erprobten Projekten werden von der Fachstelle für Demokratie zu Handlungskonzepten für die Stadt Moers und den Kreis Wesel verdichtet und geben Orientierung bei der Konzeptionierung zusätzlicher Projekte und der Weiterentwicklung grundlegender Strategien.