Wie die Berliner Gemeinschaftsschulen beweisen auch die PRIMUS-Schulen in NRW, dass inklusive Langformschulen allen Kindern große Lernzuwächse ermöglichen und den Lernerfolg von der sozialen Herkunft weitgehend entkoppeln können.

 Wir bedanken uns bei der Autorin Dr. Brigitte Schumann, die uns ihren Beitrag für eine Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat. Der Artikel wurde erstmals am 17.03.2020 im Bildungsklick veröffentlicht.

 Seit 2013 beziehungsweise 2014 wird an fünf Schulen in NRW im Schulversuch erprobt, wie sich die pädagogische und organisatorische Verbindung von Grundschule und Sekundarstufenschule zu einer durchgängigen Schule von Klasse 1 bis10 auswirkt. Sie sind neben der erfolgreichen und über die Grenzen bekannten Laborschule Bielefeld, die seit 1974 den Status der Versuchsschule des Landes an der Universität Bielefeld hat, die bislang einzigen Langformschulen in NRW. 

Bemerkenswerte Leistungsergebnisse 

Der Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung über den Pilotversuch Berliner Gemeinschaftsschulen von 2016 muss in deutschen Ohren immer noch wie eine Sensation klingen:

Schülerinnen und Schüler, die  ab Klasse 1 ohne jede äußere Leistungsdifferenzierung in einer Schule für alle bis Klasse 10 beziehungsweise 13 in altersgemischten Gruppen lernen, kein Sitzenbleiben kennen und erst in der 9. Klasse eine Leistungsbewertung mit Ziffernnoten erhalten, verzeichnen bemerkenswerte Lernzuwächse – insbesondere, wenn  sie aus eher  bildungsfernen Elternhäusern  kommen. Selbständiges Arbeiten in kleinen Gruppen, verknüpft mit lehrergesteuerten Phasen und regelmäßiges Schülerfeedback stehen im Vordergrund des teamgestützten Lehrerhandelns. Gemessen an Schulen aus dem gegliederten Schulsystem mit einer vergleichbaren Schülerschaft ist obendrein der Lernzuwachs an Gemeinschaftsschulen größer.

Jetzt können auch die ersten PRIMUS Schulen, die konzeptionell wie die Berliner Gemeinschaftsschulen aufgestellt sind, mit ihren Schulabschlüssen  eine konkrete Leistungsbilanz vorlegen. Nachdem im vergangenen Schuljahr die ersten Schülerinnen und Schüler des 10. Jahrgangs an der Primus Schule in Minden gute Abschlüsse erreichten, prognostiziert die PRIMUS-Schule in Münster für dieses Schuljahr auf der Basis der Zwischenzeugnisse ihren Schulabgängern ebenfalls bemerkenswerte Ergebnisse:

„Nach aktuellen Berechnungen erreichen die meisten Schüler*innen einen höheren Abschluss, als im 5. Jahrgang vorausgesagt“, heißt es auf der Homepage der Schule. Danach wird ein Drittel der Schülerinnen und Schüler voraussichtlich die Qualifikation für die gymnasiale Oberstufe bekommen, obwohl nur ca. 5% eine Empfehlung für das Gymnasium hatten. Von den Schülerinnen  und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf  wird sogar die Hälfte einen Hauptschulabschluss oder einen höheren Abschluss  erreichen. Dagegen erlangen ca. 70% der Jugendlichen an Sonderschulen nicht den mindestqualifizierenden Hauptschulabschluss. Viele, die als Kinder eine Hauptschulempfehlung hatten, werden als Jugendliche mit dem Realschulabschluss oder mit der Qualifikation für die gymnasiale Oberstufe in der Tasche abgehen.

 Wege aus sozialer Benachteiligung   

In  Coerde, einem Münsteraner Stadtteil mit hohen Armutsrisiken und Bildungsbenachteiligung, hat die Initiative „Chancen für alle Coerder Kinder“ (ChaCK) ihr Interesse an einer PRIMUS Schule bekundet.

Bildungsforscher Klaus Klemm hat im Auftrag der Initiative im September 2019 ein Gutachten mit dem Titel „Schule in Coerde: status quo und Perspektiven“ vorgelegt. „Zur Sicherung eines attraktiveren Angebots im Bereich der weiterführenden Schulen“ empfiehlt er der Stadt Münster, sich als Schulträger  beim Schulministerium um die Errichtung einer  PRIMUS Schule zu bemühen. Die Westfälischen Nachrichten zitieren ihn mit dem Satz: „Die PRIMUS Schule wäre maßgeschneidert.“

Das Erfolgsgeheimnis

Lothar Sack, ehemaliger Schulleiter der Fritz-Karsen-Schule in Berlin, die 1948 als allererste Langformschule errichtet wurde, kann aus langjähriger Erfahrung die zahlreichen Vorzüge der Langform bestens beurteilen. Er weiß, dass der Wegfall unsinniger Gutachten für die Schulartwahl und des Schulwechsels am Ende der Grundschule den Kindern zugutekommt. Ihnen bleibt die Hektik des letzten Grundschuljahres erspart. Sie resultiert aus der Sorge, ob denn auch genug für den Anschluss an das Gymnasium „durchgenommen“ worden ist.

Durch die längere Verweildauer an einer Schule entsteht ein größeres Altersgefälle in der Schülerschaft. Sie bringt  einen  „systemischen Gewinn“, der selbständiges Lernen in jahrgangs- und schulstufenübergreifendes Gruppen begünstigt, das Leben der Schulgemeinschaft mit Anregungen bereichert und vielfache Möglichkeiten für die Verantwortungsübernahme der älteren Schülerinnen und Schüler für die jüngeren bietet.

Die unterschiedlichen Schwerpunkte der Grundschulpädagogik mit ihrer Betonung der individuellen Lernentwicklung und der Sekundarstufen-Pädagogik mit ihrem stärkeren Fokus auf fachliche Anforderungen können „ausbalanciert“ und zu einer  Pädagogik und Didaktik  „aus einem Guss“ weiterentwickelt werden.  Nicht zuletzt können Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen ihre Schullaufbahn nach der Grundstufe unproblematisch ohne Schulwechsel fortsetzen.

Grund- und Gesamtschulen zu PRIMUS-Schulen weiterentwickeln!

Der Übergang von der Grundschule zu einer integrierten Gesamtschule ist zwar nicht von vergleichbaren Brüchen und Verunsicherungen gekennzeichnet, die sich beim Übergang in das gegliederte Sekundarstufensystem ergeben. Negative Effekte des Schulwechsels sind aber auch hier nicht grundsätzlich ausgeschaltet.     

Beide Schularten haben zwar in der Regel schon ein weitgehendes pädagogisches Verständnis als „Schule für alle“ entwickelt, können aber für sich allein gemeinsames Lernen nur in dem begrenzten Rahmen, den das selektive Schulsystem zeitlich und konzeptionell zulässt, entwickeln. Dieser wird zum Beispiel durch  bildungspolitische Vorgaben wie die Verpflichtung zur äußeren Fachleistungsdifferenzierung an Gesamtschulen erheblich eingeschränkt.

Daher bietet sich das PRIMUS-Modell  für eine konsequente Weiterentwicklung von Grund-und Gesamtschule zu einer „Schule für alle“ an. Durch die äußere und innere Integration von Grund- und Sekundarstufe können die bislang getrennten Systeme zu einer organisatorisch und pädagogisch –konzeptionellen Einheit nach dem PRIMUS-Modell in gemeinsamer professioneller Verantwortung die Talente aller Kinder und Jugendlichen fördern.

PRIMUS-Schulversuch fortsetzen und ausweiten 

Neben dem wissenschaftlichen Beirat setzen sich auch der Grundschulverband (GSV), der Gesamtschulverband (GGG) und das NRW Bündnis „Eine Schule für alle“ für die Fortsetzung und Ausweitung des Schulversuchs ein. Die drei Organisationen fordern die Landesregierung auf, „das bisherige Projekt dauerhaft fortzusetzen, um eine langfristige, systematische und kontinuierliche Erprobung zu ermöglichen. Gefordert wird außerdem, weiteren Schulen zu ermöglichen, das längere gemeinsame Lernen von Jahrgang 1-10 beziehungsweise. 13 zu erproben“. 

Die Elternschaft der PRIMUS-Schulen hat sich organisiert und will  in Zukunft als Teil der Landeselternschaft der integrierten Schulen die Stimme  für ihre Schulen politisch erheben.   

Mit dem Schulversuch „Talentschulen“ versucht die schwarz-gelbe Landesregierung den Eindruck zu erwecken, dass sie sich ernsthaft um Bildungsgerechtigkeit bemüht. 

Es ist an der Zeit, anstelle symbolischer Politik nach mehr als 45 Jahren die erfolgreich arbeitende Laborschule Bielefeld als ständige Versuchsschule des Landes in die Fläche zu bringen und um weitere PRIMUS-Schulen zu ergänzen. 

Autor*in

Dr. Brigitte Schumann war 16 Jahre Lehrerin an einem Gymnasium, zehn Jahre Bildungspolitikerin und Mitglied des Landtags von Nordrhein-Westfalen. Derzeit ist Schumann als Bildungsjournalistin tätig.