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Urteilsfähigkeit

„Analysefähigkeit, Urteilsfähigkeit und Handlungsfähigkeit sind für eine demokratische Gesellschaft zentral, weil diese nur durch urteils- und handlungsfähige Menschen existiert.“

Die Fähigkeit des Menschen, begründete Urteile zu treffen und sich von ihnen leiten zu lassen, ist eine zentrale Voraussetzung für die Freiheit des eigenen Denkens und Handelns wie auch der eigenen Lebensgestaltung, für die Autonomie gegenüber der Gesellschaft, aber auch den eigenen Emotionen. Die Urteilsfähigkeit trägt zur Identitätsbildung bei und ermöglicht die Teilhabe an der Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse. In anthropologischer Hinsicht kennzeichnet die Urteilsfähigkeit den Menschen als handelndes Wesen (vgl. Monika Keller 2005). In ihr kulminieren zentrale Ziele schulischer Bildung. Urteilsfähigkeit ist eng verknüpft mit der Analysefähigkeit und Handlungsfähigkeit, orientiert an der regulativen Idee der Mündigkeit. Sie sind für eine demokratische Gesellschaft zentral, weil diese nur durch urteils- und handlungsfähige Menschen existieren kann.  

Urteilsfähigkeit in der Demokratiepädagogik und politischen Bildung  

Urteilsfähigkeit ist im Modell der Demokratiekompetenz im Service-Learning  (siehe Lernen durch Engagement in diesem Heft) verankert, das alle Dimensionen von Demokratiekompetenz erfasst. Voraussetzungen, Bedingungen und spezifische Faktoren von Urteilsfähigkeit, z.B. informierte Offenheit und analytische Denkweise, reflektierte Selbsterkenntnis, Toleranz für Mehrdeutigkeit und Unsicherheit, Anerkennung demokratischer Prinzipien sowie Demokratiekonzepte, sind in den drei Bereichen des Modells – Einstellungen und Werte, praktische Handlungsfähigkeiten, Wissen und kritisches Denken – integriert.  

Der Orientierungs- und Handlungsrahmen für das übergreifende Themenfeld Demokratiebildung im Lehrplan in Berlin und Brandenburg, der hier als Beispiel für offizielle länderspezifische Konkretisierungen stehen soll, hat zwar eine eigene Dimension „Urteilen“ neben den Dimensionen „Analysieren“ sowie „Kommunizieren“ und „Handeln“, die Ausführungen der Teilkompetenzen erfassen die Urteilsfähigkeit aber nicht systematisch. Konkret angesprochen werden Selbstreflexion und eine werteorientierte Beurteilung. 

Politische Urteilsfähigkeit im engeren Sinne ist im vorherrschenden Modell der Politikkompetenz (Detjen et al. 2010) eine zentrale Dimension, die mit den weiteren Dimensionen Fachwissen, politische Handlungsfähigkeit, politische Einstellungen und Motivation eng verbunden ist. Sie wird für den Politikunterricht in fünf Urteilsarten differenziert (Feststellungsurteil, Erweiterungsurteil, Werturteil, Entscheidungsurteil und Gestaltungsurteil). 

Moralische Urteilsfähigkeit 

Der Psychologe Lawrence Kohlberg hat ein Stufenmodell für die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit entwickelt. Er unterscheidet darin drei Ebenen – das präkonventionelle, das konventionelle und das postkonventionelle Niveau –, die wiederum in jeweils zwei Stufen unterteilt sind. Die Stufen sind die Orientierung am eigenen Wohlergehen, an Gehorsam und an der Unterordnung unter Stärkere und die Orientierung an universalen Prinzipien. Neben dieser kognitiven Entwicklung sind die Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme und zur Empathie (Dilemmamethode) für eine ausgebildete moralische Urteilsfähigkeit notwendig. Georg Lind hat dieses Konzept im Konzept der „just community“ auf Schulen übertragen. 

Grundlagen des Erwerbs von Urteilsfähigkeit 

In den letzten Jahren hat sich eine gewisse Skepsis ausgebreitet, ob eine den hohen Ansprüchen genügende Urteilsfähigkeit in der schulischen und außerschulischen Bildung gefördert und aufgebaut werden kann. Diese Skepsis hat zugenommen vor allem angesichts einer epistemischen Ungewissheit, also der Abhängigkeit der Erkenntnis und Bearbeitung gesellschaftlicher Probleme von wissenschaftlichem Wissen, das in seiner Entstehung stets umstritten ist, angesichts der Pluralität der Gesellschaft, von Wertekonflikten und einem gefährdeten „inklusiven Charakter der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas).  

Für die Demokratiepädagogik, die die gesamte Gesellschaft im Blick hat, lohnt ein Blick auf entsprechende Diskussionen in der Erwachsenenbildung (vgl. Waltraut Meints-Stender/Dirk Lange).  

Urteilsbildung erfordert Selbstreflexion. Urteilende müssen sich ihrer eigenen Perspektiven, aus denen sie die Welt sehen, bewusst werden. Ihre Perspektiven sind von ihrer Sozialisation und ihren Lebenslagen geprägt, ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft, ihrer Ethnizität, ihrer sozialen Position und anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit.  

Urteilsbildung erfordert außerdem Dialog. Im Austausch mit anderen erfahren die Urteilenden die Verschiedenheit der Menschen. Sie erfahren die Pluralität der Perspektiven auf eine Sache, die darauf beruht, dass jeder Mensch jeweils unterschiedliche gesellschaftlich positioniert ist. In der Auseinandersetzung mit anderen entfaltet und konstituiert sich die Pluralität der Gesellschaft und auch die eigene Identität, man erfährt sich durch die anderen (Hannah Arendt).  

Dieser Dialog ermöglicht wiederum eine Reflexion des eigenen Urteils. Wenn man von einem allgemeinen Standpunkt aus denkt, reflektiert man zwangsläufig über das eigene Urteil. Diesen allgemeinen Standpunkt erreichen die Urteilenden dadurch, dass sie sich in die Perspektive möglichst vieler anderer versetzen. Die Standpunkte der anderen werden auf ihre Berechtigung (Werte, soziale Verhältnisse) und ihre gesellschaftlichen Bedingungen hin analysiert. So kann Kritik entstehen und es wird möglich, zu einem Urteil zu kommen, das „für alle gelten kann“. 

Medien: Literatur, Downloads, Links, Videos 
  • Achour, Sabine; Buresch, Elke; Eikel, Angelika; Reitschuster, Reinhold; Schröder, Eva; Töreki, Christian (2020): Orientierungs- und Handlungsrahmen für das übergreifende Thema Demokratiebildung. Hg. v. Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM). Ludwigsfelde. 
  • Beutel, Wolfgang u.a. (2022): Handbuch Demokratiepädagogik. Frankfurt/M.: Debus Pädagogik. 
  • Habermas, Jürgen (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Berlin: Suhrkamp. 
  • Keller, Monika (2005): Moralentwicklung und moralische Sozialisation. In: Horster, Detlef/Oelkers, Jürgen (Hg.): Pädagogik und Ethik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 
  • Kohlberg, Lawrence (1996): Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt/M.: Suhrkamp.  
  • Lind, Georg (2003): Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung. München: Oldenbourg. 
  • Maus, A.; Gloe, M. (2019): Demokratie-Kompetenz bei Service-Learning. Modellentwicklung und Anregungen für die Praxis. Berlin: Stiftung Lernen durch Engagement. 
  • Meints-Stender, Waltraut/Lange, Dirk (2016): Das Politische in der Politischen Bildung. In: Hufer, Klaus-Dieter/Lange, Dirk (Hg.): Handbuch der politischen Erwachsenenbildung. Berlin: Wochenschau Verlag. 
  • Weißeno, G. u.a. (2010): Konzepte der Politik – ein Kompetenzmodell. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Verfügbar: http://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/35835/konzepte-der-politik (08.01.2023).