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Beutelsbacher Konsens

„Der Beutelsbacher Konsens stellt für Akteur*innen der demokratischen und der politischen Bildung eine professionelle Handlungsmaxime dar, deren Umsetzung sich in der Praxis als ein schwieriger Balanceakt erweist.“

Der Beutelsbacher Konsens ist ein normatives Grundsatzpapier der politischen und demokratischen Bildung. Er gibtBildungsakteur*innen dieser Felder drei Leitlinien für ein professionelles Handeln vor: 1. das Überwältigungsverbot, 2. das Kontroversitätsgebot und 3. die Schüler*innenorientierung.

Zur Entstehungsgeschichte: Der Text des Beutelsbacher Konsenses beruht auf dem Protokoll einer Tagung von Politikdidaktiker*innen im Jahr 1976. In der jungen, sich noch konstituierenden Wissenschaftsdisziplin der Politikdidaktik, kam es damals vor dem Hintergrund gesellschaftlich-politischer Polarisierungen und bildungspolitischer Lagerbildungen zu sehr kontrovers geführten Debatten um Ziele und Aufgaben der Politischen Bildung. Dabei stand die eine Seite, die sich in Teilen an der Kritischen Theorie orientierte, für Emanzipation und Mitbestimmung als zentrale Werte ein, die andere, eher liberal-konservative Seite vertrat hingegen Rationalität und Gewissenhaftigkeit. Die Erreichung eines Minimalkonsenses war damals noch mit einem Fragezeichen versehen, zumal es über den Protokolltext keine Abstimmung gab. In der weiteren Rezeption wurde der Text, trotz immer wieder aufkommender Kritik an einzelnen Punkten, jedoch maßgeblich für den Berufsethos von Akteur*innen der politischen und demokratischen Bildung.

Er wird hier als Auszug wiedergegeben, der vollständige Text ist als Onlinequelle abrufbar.

1. Überwältigungsverbot
Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbständigen Urteils“ zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen
Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss,
die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende andere Ansichten kommen ja zum Zuge.
3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen
Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich – etwa gegen Herman Giesecke und Rolf Schmiederer – erhobene Vorwurf einer „Rückkehr zur Formalität“, um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens geht.

Zum Umgang mit dem Beutelsbacher Konsens in der Praxis von Demokratiepädagogik und Politischer Bildung:
Der Beutelsbacher Konsens gibt aus der Metaperspektive Grundprinzipien für Interaktionen in der Bildungspraxis vor, er überlasst seine konkrete Umsetzung jedoch den Lehrenden und den Lernenden (vgl. Reinhardt 2016, S. 271). Für die Bildner*innen ergeben sich in der Praxis Situationen, in denen adäquate Entscheidungen schwerfallen.

Beispiele:

  • Wie soll mit rechtsextremistischen Äußerungen von Lernenden umgegangen werden? Diskursverbote und Moralisierungen mit erhobenem Zeigfinger würden Bemühungen der Prävention von Rechtsextremismus konterkarieren und die Frage aufwerfen, wann die Grenze zwischen legitimer politisch-demokratischer Bildung und Indoktrination überschritten ist. Die Alternative einer aufklärenden Bearbeitung rechtsextremistischer Positionen läuft Gefahr, diese in der Wahrnehmung der Lernenden zugleich zu legitimieren und attraktiv erscheinen zu lassen (vgl. Heinrich 2016, S. 182).
  • Wie soll damit umgegangen werden, wenn eine Gruppe von Schüler*innen ankündigt, während der Unterrichtszeit an einer Demonstration der Klimaschutzbewegung teilnehmen zu wollen? Auf der Einhaltung der Schulpflicht zu bestehen, stellt einen schulrechtlichen Weg, jedoch keinen pädagogischen Umgang mit der Situation dar. Eine direkte Unterstützung der Gruppe wäre hinsichtlich des Indoktrinationsverbots und des Kontroversitätsgebots verfehlt. Die Situation könnte sich überdies weiter zuspitzen, wenn andere Schüler*innen z.B. an einer Demonstration einer rechtsextremen Partei teilnehmen wollen.

Die aufgezeigten Beispiele verdeutlichen den schwierigen Balanceakt von Bildner*innen bei der Umsetzung des Beutelsbacher Konsenses. Die Reflexion demokratischer Werte und Prinzipien wie der Menschen-, Grund- oder Kinderrechte sowie der freiheitlichdemokratischen Grundordnung ist erforderlich, um die Leitlinien des eigenen Handelns professionsethisch auszuloten und in Bildungsprozessen demokratische Einstellungen bei den Lernenden zu befördern. Bildner*innen müssen stets ihre eigenen demokratischen Haltungen und Zielorientierungen bewahren und sie auch situationsadäquat gegenüber den Lernenden vertreten, ohne zu indoktrinieren. Der Beutelsbacher Konsens verpflichtet die Lehrkräfte, entgegen einer verbreiteten Fehlinterpretation, nicht zur Neutralität. Die Orientierung an demokratischen Werten und Prinzipien allein reicht aber nicht aus, um den Balanceakt zu bewältigen.

Die drei Grundprinzipien des Beutelsbacher Konsenses leiten Akteur*innen der Demokratiepädagogik und der Politischen Bildung über die demokratische Haltung hinaus zu einer pädagogischen Haltung an, die den Lernenden Denkalternativen zugesteht, selbst wenn dabei Fundamente der demokratischen Ordnung in Frage gestellt werden (vgl. May 2021, S. 20). Demokratiepädagogische und Politische Bildung können nur gelingen, wenn die Lernenden Demokratie auch problematisieren und kritisieren können.
Diese Einlösung des Mündigkeitsanspruchs der Adressat*innen von Bildungsprozessen stellt in Verbindung mit einer konsequent demokratischen Haltung der Bildungsakteur*innen eine unabdingbare Voraussetzung für ein Gelingen des Balanceakts einer professionellen Umsetzung des Beutelsbacher Konsenses dar, in der schulischen wie der außerschulischen Bildungsarbeit.

Medien: Literatur, Downloads, Links, Videos
  • Grammes, Tilmann (2016): Ein pädagogischer Professionsstandard der politischen Bildung. Fachdidaktisches Denken mit dem Beutelsbacher Konsens. In: Widmaier, Benedikt; Zorn, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung, S. 155–165. 
  • Heinrich, Gudrun (2016): Politische Bildung gegen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Welche Bedeutung hat der Beutelsbacher Konsens? In: Widmaier, Benedikt; Zorn, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung, S. 179–186. 
  • May, Michael (2021): Haltung ist keine didaktische Strategie! Zu einem Missverständnis im Kontext der Demokratiebildung. In: GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik 70 (1), S. 17–21.  
  • Reinhardt, Sibylle (2016): Fahrlässige Kritik am Konsens, seine emanzipatorische Funktion und notwendiger Streit. In: Widmaier, Benedikt; Zorn, Peter (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung, S. 269–275. 
  • Reinhardt, Sibylle (2020): Politische Bildung für die Demokratie. In: GWP – Gesellschaft. Wirtschaft. Politik 69 (2), S. 203–214.  
  • Scherb, Armin (2017): Der Beutelsbacher Konsens. In: Lange, Dirk; Reinhardt, Volker (Hg.): Basiswissen politische Bildung. Handbuch für den sozialwissenschaftlichen Unterricht. Bd. 1: Konzeptionen, Strategien und Inhaltsfelder politischer Bildung. 2, S. 255–262. 
  • Wehling, Hans-Georg (1977): Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch. In: Schiele, Siegfried; Schneider, Herbert (Hg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung, S. 173–184. 

Videolinks: 

  • Gebauer, Bernt (2020): Umgang mit Kontroversität als Grundlage für Demokratiebildung an Schulen. Beitrag vom 11. März 2020 im Rahmen der öffentlichen Vortragsreihe 2020 des IDeA-Zentrums zum Thema „Gesellschaft im Wandel – Schule im Wandel?!“. Online: https://www.youtube.com/watch?v=QyVco2KNJbA&t=5s [letzter Zugriff: 28.08.2023] .
  • Reinhardt, Sibylle (2020): Politische Bildung und das vermeintliche Neutralitätsgebot. Vortrag anlässlich der Herbsttagung der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) vom 13./14. November 2020 zum Thema der Tagung „Standortbestimmung Politische Bildung. Gesellschaftspolitische Herausforderungen, Zivilgesellschaft und das vermeintliche Neutralitätsgebot.“ Online: https://www.youtube.com/watch?v=TkO6SteGtSc [letzter Zugriff: 28.08.2023].

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